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Die Deutsch-Ungarische
Gesellschaft e. V. (DUG) -
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zwischen den Völkern!
GRENZWERTIG – Zeitschrift für Migration und Menschenrechte (Trier)
Am 21. März 2011 auf der Internetseite der Zeitschrift veröffentlichtes Interview
JEDER IST POTENTIELLES OPFER
Bei den Parlamentswahlen in Ungarn erreichte die Rechtsextreme Partei Jobbik über 16 Prozent der Stimmen. Grenzwertig sprach mit dem Präsidenten der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft in Berlin, Klaus RETTEL, über Ziele und Opfer der Faschisten und die Reaktion der ungarischen Zivilgesellschaft.
Interview: Fabian Jellonek
Grenzwertig: Wer steckt hinter Jobbik? In Medienberichten entsteht der Eindruck, Jobbik sei aus einer Art Bürgerbewegung entstanden. Ist dieser Eindruck richtig, oder steckt hinter der Partei ein einzelner Finanzier bzw. ein Netzwerk von Personen, die die Bewegung bewußt gesteuert haben?
Klaus Rettel: Die Frage ist so plausibel gestellt wie schwer zu beantworten. Nach wie vor halten sich – seit den Parlamentswahlen vom April 2010 schwächer gewordene – Gerüchte, wonach Jobbik eine Zweckgründung der sozialistischen MSzP (zwecks Schwächung des zu erwartenden Erfolges des Fidesz/Bürgerbundes) sei, eine Gründung des liberalen SzDSz (zum Nachweis der Bedeutung des SzDSz als eines Korrektivs in einer national aufgeheizten politischen Landschaft) oder eine von Fidesz-Mitgliedern veranlaßte Abspaltung wegen des als zu weich, zu wenig völkisch und zu wenig kämpferisch empfundenen Fidesz/Bürgerbundes – oder eine von der Fidesz-Führung selbst betriebene Abspaltung, um mit der Formierung des extrem rechten Spektrums in einer neuen Partei dafür zu sorgen, daß der Fidesz nicht direkt mit den Extremisten in ein und derselben Partei verbunden ist, er aber auch dort Einfluß behält und diese Partei ihn im Falle wackliger Mehrheiten unterstützt.
Richtig ist und das hat der Fidesz-Parteivorsitzende Orbán im Sommer bei seinem Antrittsbesuch in Berlin erneut bekundet, daß er der Strategie des einstmaligen CSU-Vorsitzenden Strauß folge, wonach es rechts von der CSU bzw. des Fidesz keine andere Partei geben dürfe. Er leitet daraus den Anspruch ab, Jobbik langfristig seine politischen Existenzgrundlagen entziehen zu können und diese Partei bedeutungslos zu machen, zumindest sie unter fünf Prozent der abgegebenen Wählerstimmen zu drücken.
Daß ein Teil dieser politischen Bewegung aus den von Orbán geschaffenen Bürgergruppen entstammt, mit denen er eine neue Basis für die Rückkehr an die Regierungsmacht schaffen wollte, nachdem er sie nach nur einer Legislaturperiode in den Parlamentswahlen von 2002 verloren hatte, ist bekannt, wird aber verdrängt; dabei hatte Orbán selbst alsbald erkannt, daß sich dort nicht nur Fidesz-Anhänger sammelten, sondern auch Elemente, die völlig anders gestrickte politische Programme verfolgten und die sich seiner Steuerung entzogen. Angesichts dieser Gefahr verlor Orbán alsbald das Interesse an einer außerparteilichen Gefolgschaft – doch ließ sich der Geist nicht mehr in die Flasche zurückzwingen (wenn auch der Zusatz "Bürgerbund" im Parteinamen eine kleine Verbeugung vor diesen Gruppen darstellt, so nutzten sie doch diese Art der Camouflage, um im Gewande des politisch interessierten Bürgers und mit ihrem Auftreten als eine Art außerparlamentarische Opposition den Kurs des Fidesz hin zu einer Fundamentalopposition gegen die Regierung zu unterfüttern und mit Hilfe von Straßenschlachten nach der sogenannten Lügenrede Gyurcsánys das passende Ambiente zu liefern).
Die rechts von der Mitte stehenden Kommentatoren nennen dagegen als Hauptgrund für das Aufkeimen von Jobbik diese Rede des MSzP-Ministerpräsidenten Gyurcsány nur wenige Monate nach der Parlamentswahl 2006, als er auf einer Klausurtagung den MSzP-Vertretern sagte, "wir" haben von morgens bis abends gelogen (sprich: die Wähler belogen, und das mit einer Formulierung, wie sie dem Jargon der Altkommunisten unter Kádár entsprach). Ob er mit dem "wir" nur sich im pluralis majestatis meinte, ob er nur seine MSzP im Blick hatte oder – wie es semantisch nie weiter verfolgt wurde – ob er tatsächlich gemäß seiner späteren Einlassung die gesamte politische Kaste, also Regierungs- und Oppositionsfraktionen gleichermaßen meinte, weil sie alle den Bürgern die Förderung eines "Über-die-Verhältnisse-Lebens", das heißt die Neuauflage/Fortführung des darauf gerichteten kádárschen "Gulaschkommunismus" auch nach dem Systemwechsel versprachen und sich im Ausmalen immer neuer unfinanzierbarer Wohltaten gegenseitig zu übertrumpfen suchten, wird in seiner Relevanz heute verdrängt.
Tatsächlich wurde diese Rede zum Anlaß genommen, Straßenkrawalle zu inszenieren – beide großen Parteien (MszP und Fidesz) versagten in dieser Situation, weil ein gewachsener demokratischer Konsens unter ihnen zu schwach ausgeprägt war und dann gänzlich aufgekündigt wurde (so verließ z. B. die Fidesz-Fraktion jedes Mal den Parlamentssitzungssaal, wenn Gyurcsány zu sprechen anfing). Ein weiteres Beispiel im letzten Regierungsjahr Gyurcánys war die von Orbán anfangs nur widerwillig aufgegriffene Idee, durch Volksabstimmungen die Praxisgebühr beim Besuch eines Arztes zu beseitigen, was ihm im Sinne "sozialer Gerechtigkeit" zwar gelang, aber von ihm nach Übernahme der Regierungsverantwortung mit für den einzelnen Bürger um so schmerzlicheren sozialen Einschnitten konterkariert wurde; nicht nur spielte nun die "soziale Gerechtigkeit" keine Rolle mehr, sondern das von Orbán benutzte Vehikel – die Volksabstimmung, mit der er den Volkszorn über die Praxisgebühr und weitere Eigenbeteiligungen kanalisierte und als "hochkochendes" Wasser auf die Mühlen des Fidesz lenkte – wurde auch in allen Fällen mit Hilfe der neuen Verfassung (Art. 8 Abs. 3 Buchstabe b des ungarischen Grundgesetzes) verboten, in denen das Ergebnis einen Einfluß auf den Staatshaushalt hätte. Man kann dies auch als einen Lernprozeß im Regieren bezeichnen, nachdem die Regierungsmehrheit errungen wurde.
Dieser durch die vorgenannten erfolgreichen Straßenschlachten innerlich verbundenen, gar verbündeten außerparlamentarischen wie auch parteiungebundenen Opposition, in der bereits Personen auftauchten, die heute das Erscheinungsbild von Jobbik prägen, stand praktisch keine oder eine ungefestigte und schlecht informierte Bürgergesellschaft gegenüber, unfähig sich zu artikulieren oder sich politisch Gehör zu verschaffen und dem Mob Einhalt zu gebieten (Anhänger dieser Form des Protestes reden nicht von Mob, sondern von einer revolutionären Überhöhung bürgerlichen Protestes, gar Widerstandes). Tatsächlich ist es ein großes Manko in allen Reformstaaten, daß die Demokratie praktisch ohne ein sicheres Standbein in einer Bürgergesellschaft weiterentwickelt werden muß. Und an diesem Manko trägt auch Ungarn schwer.
Jedenfalls erleichtert dies die Verfestigungen politisch-ideologischer und organisatorischer Art. Jobbik mit der besonderen Konnotation des Völkisch-Nationalen kann ein Lehrbeispiel dafür sein – wenn sich in Gestalt der Ungarischen Garde als verlängerter Arm von Jobbik eine militärische Formation bildet, die das Gewalt- bzw. Polizeimonopol ihres Staates, aber auch dessen außenpolitische Prärogativen in Frage stellt, indem Jobbik/Ungarische Garde den Sinn und Zweck der Gründung der Garde darin sehen, daß sie nach einer nur ihnen obliegenden Bewertung im Falle von Drangsalierungen ungarischer Minderheiten in den Nachbarstaaten den dort bedrohten Landsleuten in einer Art Nothilfe eigenständig auch mit Waffengewalt Schutz und Wehr sein können, dann stimmt etwas mit diesem ungarischen Staat nicht, wenn seine Repräsentanten nicht sofort parteiübergreifend einschreiten und ihren Staat wieder auf die Grundlage der Verfassung stellen (übrigens hat auch der jetzt wegen Aussichtslosigkeit nicht wieder zur Wahl angetretene ungarische Staatspräsident Sólyom gerade in seinem zögerlichen Verhalten bei einer notwendigerweise klaren und eindeutigen Verurteilung von Jobbik/Ungarischer Garde große Verantwortung auf sich geladen).
Jobbik erhält Geld aus vielen Quellen, nicht zuletzt aus der offiziellen staatlichen Parteienfinanzierung, die der Partei wie jeder anderen auch nach den Erfolgen bei den Wahlen zum Europaparlament und zum ungarischen Parlament zusteht. Es gibt sicher auch – wie in Deutschland in vergangenen Jahrzehnten – manchen Unternehmer und Staatsbürger, der sich mit Spenden nach allen Seiten absichert oder der sich seine Sympathie für derartige subversive Gruppen auch etwas kosten läßt. Aber die bewußte Steuerung – oder besser die Umsetzung einer Idee – geschah aus universitären Kreisen heraus; der Jobbik-Vorsitzende Vona ist der Prototyp des universitär gebildeten und auf Gleichgesinnte gestützten Aufsteigers, der sich an sich selbst und seinen Worten berauscht und dem Demagogie wichtiger als pragmatische Politik ist. Er und seine Partei wollen das Heilmittel sein, das Ungarn von den Leiden befreit, in die sie das Land zuvor selbst stürzen wollen.
Leider unverändert erzeugt die ungarische Hochschullandschaft Personen, die überholten Mythen und nationalen Selbstvergewisserungen früherer Jahrhunderte anhängen, die Ungarn – unter Beschwörung längst verschwundener Bedingungen vergangener Zeiten – zu einstiger territorialer, aber auch politischer Größe zurückbringen wollen (u. a. durch Revision des Trianon-Vertrages als eines Teils der Pariser Vorortverträge, der zur Amputation des historischen Ungarns führte und nach Meinung der Trianon-Kritiker Ungarn unter Verlust von 2/3 sowohl seines Territoriums als auch seiner Gesamtbevölkerung sowie einem Drittel seiner ungarischen Bevölkerung als einen Rumpfstaat übrig ließ, während in den auf ehemals ungarischem Territorium gegründeten Nachbarstaaten noch immer große Teile der ungarischen Nation, nun aber als Minderheiten, leben). Die Mitgliedschaft in der EU (im Jobbik-Sprachgebrauch in Anlehnung an die ehemalige UdSSR als "EU.S.S.R" verunglimpft) wird als Fortsetzung des damaligen Versuches gesehen, Ungarn zu unterdrücken und das Land wirtschaftlich und finanziell in Knechtschaft (vor allem mit Hilfe der "Finanzoligarchie des Weltjudentums") zu halten – so etwas wie das Schengen-Abkommen über die Freizügigkeit innerhalb der EU (und damit verbunden die Möglichkeit, auf der anderen Seite der Grenze lebende Ungarn oder erhaltene Kulturgüter ungehindert zu besuchen, also die Trianon-Grenzen vergessen zu machen) gilt als Unterlaufen der als berechtigt ausgegebenen Forderungen auf territoriale Angliederung der mehrheitlich ungarisch besiedelten Regionen der Nachbarstaaten (z. B. Südslowakei; Siebenbürgen im heutigen Rumänien) an das ungarische Kernland. Die Gegner bewerten die EU-Freizügigkeit aber auch als einen fiesen Trick der EU-Kommission, das homogene (vermeintlich "reine", vor allem reinrassige) Ungarntum im Kernland durch fremde Zuwanderer zu zerstören (was übrigens ebenfalls die Folge der verfochtenen Angliederung ungarisch besiedelter Grenzstreifen der Nachbarländer wäre, weil es nur als Trug- oder Wunschbild, aber nicht in der Realität eine flächendeckend ungarische Besiedlung dieser Gebiete gibt).
Überhaupt sehen die "Jobos", wie sie abschätzig im allgemeinen Sprachgebrauch von ihren Gegnern genannt werden, in der ethnischen Reinheit eines ihrer wichtigen Ziele, welches von Roma, Juden, Kommunisten, Ausländern (selbst den harmlosen westeuropäischen Rentnern, die in Ungarn ihren Lebensabend im eigenen Häuschen verbringen, aber laut Jobbik enteignet gehören) und natürlich auch Homosexuellen gefährdet wird. Die Doppelzüngigkeit – oder ist es die Selbstentlarvung der auch bei Jobbik herrschenden doppelten Moral? – zeigt sich darin, daß führende "Jobos" mit Angehörigen dieser verfemten Gruppen verheiratet sind oder zusammenleben oder sich diese als Freundin und – trotz des jobbikschen Postulats der Reinheit der Ehe – als Scheidungsgrund halten, wenn sie nicht sogar selbst einen Migrationshintergrund haben und deshalb selbst am besten beurteilen können müßten, wie sehr ihr fremdes Blut das "wahre Ungarntum" beschmutzt.
Der entscheidende Fehler, der das Großwerden von Jobbik gefördert hat, war das Spiel über die Bande, dem sich die beiden großen Parteien MSzP und Fidesz gegenüber Jobbik und seinem Ableger, der Magyar Gárda (Ungarischen Garde), hingegeben haben. Die MSzP als Regierungspartei hat es vermieden, klare und eindeutige Schritte gegen beide Gruppierungen einzuleiten, weil man einerseits hoffte, auf diese Weise national gesinnte Wähler nicht vor den Kopf zu stoßen, und andererseits den Fidesz schlecht aussehen zu lassen, indem man ihn mit Jobbik in einen Topf warf (und damit die Hoffnung verband, daß Wähler, die dem Fidesz hätten zuneigen können, dann durch dessen Nähe zu Jobbik verschreckt wären und so zu einer anderen Stimmabgabe motiviert würden). Der Fidesz wiederum sah ein Wählerreservoir, das er ebenfalls nicht durch einen klaren Trennungsstrich verprellen wollte und das sich möglichst nicht zu einer eigenen Parteigründung veranlaßt sehen sollte. Meine These ist, daß – das Wahlergebnis vom April d. J. vor 18 bis 24 Monaten als sicher vorhergesehen – MSzP und Fidesz ihr Taktieren im Hinblick auf Jobbik aufgegeben hätten. Das Wahlergebnis für beide wäre allenfalls in Zehntelprozentpunkten anders ausgefallen, und Jobbik hätte vor allem als Protestpartei sehr viel weniger Zulauf erhalten.
Grenzwertig: Was will Jobbik? Mit welchem Programm ging man in den Wahlkampf?
Klaus Rettel: Einige der großmannsüchtigen Träume über eine Neuordnung der Grenzen im Karpatenbogen und sonstige Auffassungen wurden bereits zuvor skizziert. Kurz zusammengefaßt kann man die Partei auf drei ideologische Säulen gestützt sehen:
1) Ein Zusammenführen des durch nationale Grenzen abgetrennten Ungarntums (Einheit der ungarische Nation); in einem späteren Stadium die geographische Wiedervereinigung der ungarischen Siedlungsgebiete im Ausland mit dem Mutterland durch Akte unverhüllten Revanchismus (Revision des Trianon-Vertrages). 2) Kampf gegen eine Überfremdung des Ungarischen, z. B. durch Ausweisung und Enteignung ausländischer Firmen, vor allem der sogenannten Multis; als eilige Notmaßnahme sollen mit nächtlicher Ausgangssperre Ghettos für Zigeuner errichtet werden – es wird hier durchweg der von den ungarischen Zigeunern selbst gewählte Traditionsbegriff "Zigeuner" benutzt, weil das Wort nach deren Einschätzung wegen der fehlenden ethnischen Homogenität nicht unter den künstlichen Oberbegriff "Roma" paßt, sie sich durch den ihnen von außen aufgezwungenen Begriff "Roma" in ihrer jeweiligen ethnischen, sprachlichen und kulturellen Eigenheit verletzt fühlen und das Wort "Zigeuner" sie sprachlich von den verachteten Rumänen abgrenzen soll; wegen der gescheiterten Integration der Zigeuner verlangt Jobbik eine separate Erziehung und Ausbildung durch Beibehaltung und Ausbau der segregierende Maßnahmen (separate Schulnebenbauten; Unterbringung zusammen mit geistig und körperlich Behinderten sowie Lernschwachen in Sonderklassen; Verbot der Benutzung oder des Unterrichts der Zigeunersprachen); der Bau von Camps – in Ungarn offen als KZs bezeichnet – zur zwangsweisen Unterbringung der Zigeuner sowie die Errichtung von Arbeitslagern werden gefordert, ferner die Zwangsabschiebungen in andere Staaten – übrigens selbst in den Fällen, in denen die Zigeuner die ungarische Staatsbürgerschaft haben. 3) Aufruf zum Kampf gegen das "(Welt-)Judentum", vor allem aus ethnischen und wirtschaftlichen Gründen. Das heutige Ungarn habe im Verhältnis zum "Weltjudentum" – so Jobbik – die Rolle der Palästinenser im Verhältnis zu den Israelis. Firmen in Ungarn haben in ungarischer Hand zu sein; jeder Versuch des Auslands, sich ungarische Produktionsmittel anzueignen, gehört unterbunden (z. B. Verbot des Verkaufs von ungarischem Agrarland an Ausländer – was auch aus der eine Wiederauferstehung feiernden "Doktrin der Heiligen Krone" folgt, die als Garant für die Einheit und die Bewahrung Ungarns als Staat und als Nation im Sinne des historischen Ungarnlandes gilt, dessen Eigentümer, mytisch überhöht, die Königskrone auch in der Republik Ungarn ist).
Da diese Rhetorik bei dem ins Auge gefaßten Wählerreservoir vielleicht heilige Schauer über den Rücken laufen läßt oder ein warmes Gefühl in der Magengrube erzeugt, aber nicht gegen die Hauptsorge der Ungarn hilft, wie sie wirtschaftlich über die Runden kommen sollen, hat Jobbik seinen Forderungskatalog um das Angebot von Arbeitsplätzen erweitert. Besonders hilfreich soll die Forderung erscheinen, die Zigeuner loszuwerden, da dann deren Arbeitsplätze an ethnische Ungarn vergeben werden könnten, was allerdings doch sehr der Plausibilität entbehrt: Wenn ostungarische Ortschaften zu 60 oder 70 Prozent von Zigeunern (die übrigens alle die ungarische Staatsbürgerschaft haben) besiedelt sind und diese Zigeuner wiederum zu 90 Prozent arbeitslos sind (was wiederum in etwa der Arbeitslosenzahl der dort ansässigen nicht-zigeunerischen Ungarn entspricht, soweit sie nicht Pendler sind), dann würde auch die Vertreibung der Zigeuner zu keinem spürbaren Angebot freier Arbeitsplätze führen, also die Arbeitslosigkeit der restlichen ungarischen Einwohner kaum merklich sinken – zumal die frei werdenden Arbeitsplätze, meist noch unterhalb jeglicher Lohnskala, kaum von ethnischen Ungarn übernommen würden.
Da aber die großen etablierten Parteien MSzP und Fidesz nichts im Sinne dieser Forderungen unternehmen, sind sie aus Sicht des Jobbik zu bekämpfen. Das heißt – und dies galt auch eindeutig bereits vor den Parlamentswahlen – es gibt keine Zusammenarbeit von Jobbik mit diesen Parteien. Fidesz wird sogar als "Feind" bezeichnet (nicht zuletzt, weil er als Konkurrent in bestimmten Wählerreservoirs angesehen wird).
Grenzwertig: Wie wird der Aufstieg der extremen Rechten in Ungarns Öffentlichkeit/Medien diskutiert?
Klaus Rettel: Je nach Parteienpräferenz mit Sorge oder auch mit Zustimmung. Da die etablierten Parteien als Versager gelten, bleibt dem Wähler, wenn er radikale Veränderungen wünscht, nur die Hinwendung zu Jobbik.
Aber auch diese Partei hat sich mit dem Einzug ins Parlament gewandelt. Indem sie die parlamentarischen Instrumente wie Anfragen u. ä. nutzt, verliert sie ihre Spontaneität. Indem sie den Erwartungen der Wähler nicht gerecht wird, vor allem in deren Sinne keine Erfolge hat, verliert sie ihre Attraktivität. Die Teilnahme des Jobbik-Vorsitzenden Vona in einer Edelausgabe der Magyar Gárda-Uniform an der Eröffnungsfeier des neugewählten Parlaments mag die übrigen Parteien in der erhofften Weise erzürnen sowie als bewußte Provokation und auch zur Vorführung des hilflosen Staates dienen, aber es löst nicht die Alltagsprobleme der Ungarn. Deshalb wird Jobbik in den anstehenden Kommunalwahlen, obwohl dort noch am leichtesten den Bürgern Veränderungen deutlich zu machen sind, wahrscheinlich Einbußen gegenüber den Parlamentswahlen hinnehmen müssen.
Das heißt nicht, daß der Lack ab ist – das Jobbik-Image läßt sich mit einigen gut gewählten Aktionen schnell wieder aufpolieren. Aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit einer Partei, wie Fidesz sie hat, läßt den oppositionellen Parteien wenig Raum für die eigene Profilierung in der Sacharbeit – zumal die parlamentarische Behandlung von Anträgen unter Ausschaltung der parlamentarischen Ausschüsse eine öffentlich relevante Auseinandersetzung nicht mehr vorsieht (wie Fidesz dies mit seiner Mehrheit durchdrückt).
Andererseits wird die "Jobbik-Gefahr" aus politischen Gründen auch hochstilisiert. Angeblich hänge, so wird kolportiert, der Rückgang ausländischer Investitionen mit dem Klima der Angst zusammen, welche die Gárda-Militaristen mit ihren Aufmärschen und ihrer Rhetorik erzeuge. Auch sollen bereits einige jüdische Familien zumindest vorübergehend das Land verlassen haben. Auch einige ausländische Hausbesitzer sollen ihren Urlaub auf ein Minimum beschränkt haben. Andererseits, da Jobbik bestimmte Klischees und Erwartungshaltungen beim Wähler weiterhin bedient, kommt die Partei trotz dieser plakativen Meldungen, deren Inhalte nicht belegt sind, aber mehr oder weniger doch den inneren Erwartungen manches Wählers entsprechen, noch gut an und in der Beurteilung gut weg.
Die plakative Art der Regierungspolitik zielt z. B. darauf ab, daß der Tag der Unterzeichnung des Trianon-Vertrages kurzfristig gleich nach dem Zusammentritt des neugewählten Parlaments als nationaler Gedenktag beschlossen wurde. Nur: Initiator war der Fidesz-Ministerpräsident Orbán, nicht Jobbik, das heißt, im Rennen um plakative Imageverbesserungen kann dank seiner Zwei-Drittel-Mehrheit Orbán leicht die Nase vorn haben. Und im Hase-Igel-Wettlauf hat Fidesz langfristig die größeren Ressourcen. Und den längeren Arm!
Grenzwertig: Jobbik ist vor allem als antizigane Partei bekannt. Inwiefern werden auch andere Gruppen und Minderheiten von Jobbik angegriffen?
Klaus Rettel: Jede Bevölkerungsgruppe, aber auch jeder einzelne, der den Handlungsmaximen und Zielsetzungen von Jobbik nicht entspricht, ist ein potentielles Opfer. Das kann selbst ein bekannter Rundfunkkommentator, das können andere Journalisten sein, wenn wegen der negativen Einstellung zu Jobbik oder wegen des jüdischen Glaubens eine Lektion erteilt werden soll. Die Verbreitung von Furcht und Schrecken, gemeinhin Terror zur Einschüchterung, wird bewußt eingesetzt – und sei es das sonntägliche unablässige Paradieren der Ungarischen Garde in einem mehrheitlich von Zigeunern bewohnten Dorf oder der Aufruf zur Sternfahrt zu einem anderen "Zigeuner-Dorf" oder die Steigerung der Einschüchterung durch Brandanschläge oder bewaffnete Überfälle (selbst wenn die Täter vielleicht nicht Mitglieder von Jobbik sind, sondern nur aus dessen ideologischem Dunstkreis kommen oder sich durch politisch-atmosphärische Veränderungen von Stimmungslagen ermutigt fühlen).
Das schlechte und ungesühnte Beispiel, daß ein einzelner ungarischer Rechtsextremer (oder sollte man besser sagen: Anarchist) andere Bevölkerungsgruppen terrorisieren kann, führt zum Abbau von Hemmschwellen – bis hin, daß auch das Publikum sich radikalisierend solidarisiert, wenn es wieder einmal gegen eine Minderheit geht. Diese Spirale der Gewalt dreht sich nicht weiter, ohne daß es ein latentes Einverständnis oder furchtsames Beiseitestehen der Nachbarn gibt.
In Bezug auf die Zigeuner gleiten diese in der Wahrnehmung der übrigen Bevölkerung dadurch zu einer Rechtsposition ab, wie sie sich immer mehr der im späten Mittelalter angleicht – damals wurden sie als Sache angesehen, das heißt ohne eigene Rechte und völlig der Willkür ausgeliefert. Und daß es zu Willkürmaßnahmen gegen Zigeunerkinder selbst in staatlichen bzw. kommunalen Einrichtungen noch bis vor den letzten Parlamentswahlen kam, ist ja sogar gerichtsbekannt geworden. Bedauerlicherweise hat aber der Mut oder die Kraft der Parteileitungen nicht ausgereicht, ein Zeichen zu setzen und die Verantwortlichen für diese Willkür von der erneuten Kandidatur bei den Kommunalwahlen fernzuhalten. Auch dieses Gewährenlassen, ob es augenzwinkernd geschieht oder nicht, ist ein schlechtes und, was noch bedauerlicher ist, auch vom Wahlvolk bei der Stimmabgabe ungesühntes Beispiel.
Im übrigen ergibt sich die Antwort aus den Hinweisen bei der ersten Frage umfassend und bejahend im Sinne der Fragestellung
Grenzwertig: Ist Jobbik lediglich in ländlichen Provinzen erfolgreich oder auch in Ungarns Ballungszentren stark?
Klaus Rettel: Abgesehen von einigen Stadtbezirken feiert Jobbik die größten Erfolge auf dem flachen Land, und zwar aus zwei Gründen: erstens eine hohe Arbeitslosigkeit und wenig Zukunftshoffnung mit der Folge von Landflucht der angestammten Bevölkerung. Nachziehende sind aber erst einmal Fremde, noch schlimmer für sie, wenn sie mit einer verachteten Minderheit in Verbindung zu bringen sind. Zweitens, weil weniger in der Anonymität der größeren Städte als vielmehr in kleinen ländlichen Siedlungen der Zusammenprall von Minderheits- und Mehrheitsbevölkerung besonders eklatant ist.
Gerade die Zigeunerbevölkerung versucht aber auch, das flache Land für sich als Siedlungsgebiet zu behaupten – einmal wegen Jahrhunderte langer Ansiedlung, zum anderen weil ländliche Regionen noch immer leichter das Überleben sichern, wenn man keine Arbeit hat und man eigentlich der sichtbarste Verlierer des Systemwechsels in wirtschaftlicher Hinsicht ist. Daß es aus ihren unterschiedlichen Kulturbegriffen, aus Not oder welchen Gründen auch immer zu einer Zunahme von Kleinkriminalität kommt, ist landauf, landab Gesprächsstoff in Ungarn. Die Zuflucht, die die staatlichen Stellen zu einer Bereinigung der Statistiken nehmen, indem sie die ethnische Zugehörigkeit der Täter nicht mehr vermerken oder Kleinkriminalität erst gar nicht mehr polizeilich registrieren, ist eher kontraproduktiv, weil sie die Opfer für dumm zu verkaufen sucht.
Das treibt zur Selbsthilfe – Selbstbewaffnung, nächtliche Patrouillen, Bürgerwehren, alles Dinge, bei denen Jobbik eine helfende Hand reicht. Hilfreicher, allerdings für den Staat auch teurer wäre die Aufstockung der Polizeikräfte und ihrer Einsatzmöglichkeiten, wie es zumindest von den etablierten Parteien versprochen worden war. Den Versuch will Fidesz jetzt unternehmen – bis hin, daß man auch aus den betroffenen Ethnien Mitarbeiter gewinnen möchte, die mit der Mentalität und dem Verhalten möglicher Verdächtiger vertraut sind. Es ist im übrigen wie in Deutschland: Die falsche Solidarität der Angehörigen ethnischer Gruppe untereinander sowie das reflexhafte Denunzieren von staatlichen Zugriffen grundsätzlich als diskriminierend, auch seitens der Gruppen- und Minderheitenvertreter, ist nicht hilfreich. Viel wäre gewonnen, würden die Gruppen intern erkennen, daß kriminelle Gruppenmitglieder keinen Anspruch auf Schutz haben dürfen, die kritiklose und unkonditionierte Schutzgewährung die Kriminalität in den eigenen Reihen anwachsen läßt und dieses Verhalten letztlich nur allen Gruppenmitgliedern schadet. Es ist bedauerlich, daß die meisten Gruppen- und Minderheitenvertreter nicht in diesem Sinne für eine Meinungsänderung in den eigenen Reihen werben, sondern noch immer einer falschen Solidarität das Wort reden. Sie sind der Wagenburgmentalität nicht weniger verpflichtet als es die ungarischen Nationalisten sind, die sich von allem und jedem bedroht sehen und nur mit dem Bedrohungsszenario ein von Überlegenheit geprägtes Wir-Gefühl der Mehrheit gegenüber den Minderheiten konstruieren können.
Vice versa gilt das natürlich ebenso für extremistische Gruppen in städtischen Gebieten, die sich gegen die übrige Wohnbevölkerung Übergriffe leisten. Diese wird nach Schutz suchen, den ihnen verbal Jobbik zusichert. Und andererseits sind es die Angehörigen des Proletariats, die für die Parolen von Jobbik empfänglich sind: ein sicheres Leben, der Stolz, zur Mehrheitsbevölkerung und zu ihrer Kultur zu gehören (Wir- Gefühl!), und das Versprechen von Arbeit und besserem Leben, wenn genügend gegen die Ausbeuter unternommen würde. Und nicht zu vergessen: Wer nichts hat oder nichts zu verlieren hat, erlebt seine Bedeutung oder sein Selbstwertgefühl dadurch, daß er sich über eine andere Gruppe erheben kann, der es noch dreckiger geht. Jobbik hilft dabei, dieses Gefühl auszuleben!
Außerdem ist in Städten das Potential und die Bereitschaft von Protestwählern größer. In allen drei Varianten profitiert Jobbik.
Grenzwertig: Gab oder gibt es in Ungarn staatliche Programme gegen Rechtsextremismus?
Klaus Rettel: Wenn überhaupt, sind die Ansätze zu gering und zu sporadisch. Aber wahrscheinlich muß Ungarn wie auch jedes seiner Nachbarländer ganz woanders ansetzen. Das ist einmal in den Schulen durch eine umfassende Bewußtseinsbildung zu diesem Thema, das ist auf der Ebene der allgemeinen Bevölkerung die Formierung der – noch weitgehend fehlenden – Bürgergesellschaft, und das ist auch im Bereich der öffentlichen Medien. So fehlen in Ungarn staatlicherseits z. B. Einrichtungen staatsbürgerlicher Bildung (sofern es sie gibt, sind sie weitgehend Zweigstellen westlicher Institutionen) oder so etwas wie Landeszentralen für politische Bildungsarbeit mit eigenen Angeboten über Staatsbürgerrechte und -pflichten. Die Aufarbeitung der ungarischen Geschichte, auch das wurde schon gesagt, tradiert eher die liebgewordenen Mythen und Glorifizierungen historischer Ereignisse, anstatt sich mit der Aufarbeitung der Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts zu befassen. Überall gäbe es Ansatzpunkte, wäre auch der staatliche Wille vorhanden, dort Geld zu investieren.
Zwar gibt es die Dekade der Roma-Integration auf EU-Ebene – noch immer scheint der rollierende Vorsitz für manches Land eine Überraschung zu sein, so unvorbereitet stolpert man in die Wahrnehmung seines Vorsitzes. Ergänzende staatliche Programme fehlen weitgehend. Die für die Staaten zur Verfügung stehenden Gelder, die eigentlich für praktische Verbesserungen der Lage der Zigeuner genutzt werden sollen, verschwinden in Projekten, die mehrheitlich der Allgemeinheit und im Glücksfall auch zu einem kleinen Teil der Zigeunerminderheit zugute kommen. Oder sie werden für Mammutkonferenzen mit Teilnehmern aus aller Welt verschwendet, auf denen immer die gleichen Sachverständigen über Verbesserungen für Minderheiten theoretisieren und neue Papierstöße mit Resolutionen produzieren – letztlich sind diese Konferenzen nichts anderes als der kostspielige Versuch, zu beweisen, daß der jeweils gastgebende Staat so unendlich viel für seine Minderheiten tut und eigentlich ein einsamer und deshalb um so mehr zu bewundernder Vorreiter für ihre Besserstellung ist. PR-Arbeit ohne viel Überzeugungskraft!
Immerhin hat Ungarn einen Ombudsman, eine vom Parlament gewählte und unabhängige Person, die sich um die Minderheiten kümmern und für diese Ansprechpartner sein soll; in der letzten Legislaturperiode gehörte der Ombudsman selbst der Zigeunerethnie an. Auch war es Ungarn, das als bisher erstes und einziges Land Vertreterinnen aus der Zigeunerethnie als Abgeordnete in das Europäische Parlament entsandt hat – in dieser Legislaturperiode ist es nur noch eine Abgeordnete, in der vorhergehenden waren es zwei. Es gibt also durchaus Lichtblicke.
Andererseits sagte der insgesamt acht Jahre amtierende, der deutschen Minderheit entstammende ungarische Minderheitenbeauftragte Prof. Dr. Kaltenbach bei seinem Abschied, daß sich in seiner Amtszeit kaum etwas bewegt hat – in der Einstellung der Mehrheitsbevölkerung zu den Zigeunern, aber auch in der Bestimmung der Rolle, die die Zigeunerminderheit nach ihrem eigenen Dafürhalten in Ungarn einnehmen will. Denn das eine ohne das andere führt zu keinem Erfolg. Auch die Minderheiten haben eine Bringeschuld.
Grenzwertig: Wie reagieren die anderen Parteien auf den Antiziganismus in Teilen der ungarischen Bevölkerung?
Klaus Rettel: In dem Spagat zwischen dem Bedienen einer latent vorhandenen, in einzelnen Bevölkerungskreisen über die Jahrhunderte manifest gewordenen Antipathie bis hin zur Feindschaft gegen Zigeuner und der wenig ausgeprägten political correctness – auch dazu wurden zuvor Beispiele gebracht – wird meist nach der in diesem Augenblick taktisch opportunen Haltung geschielt. Wenig hilfreich ist das weitgehende Fehlen eines politischen Grundkonsenses in wichtigen, auch Parteigrenzen übergreifenden Fragen. Also kommt es darauf an, ob ich mir als Politiker im tagespolitischen Geschäft mit dieser oder jenen Äußerung mehr Erfolg verspreche.
Deshalb wird das Auftreten von Jobbik weitgehend taktisch beurteilt, ebenso wie das Verhältnis der übrigen Parteien zu latenten Vorbehalten in der Bevölkerung gegenüber den Zigeunern.
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Dieser vorstehend wiedergegebene Interviewartikel beruht auf der Veröffentlichung der Zeitung "Grenzwertig" unter http://www.kulturlotsen.org/grenzwertig/?p=128, wurde aber bezüglich Schreibfehlern und Auslassungen überarbeitet und wegen zwischenzeitlicher, aus der Leserschaft gekommener Nachfragen zu einzelnen Aussagen ergänzt bzw. an manchen Stellen mit erläuternden oder verdeutlichenden Zusätzen versehen. Der Inhalt der Aussagen wurde nicht verändert.
Stand: 01.11.2013