Seit 1991 die einzige deutsch-ungarische Gesellschaft mit Sitz in der deutschen Hauptstadt
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Die Deutsch-Ungarische
Gesellschaft e. V. (DUG) -
eine tragfähige Brücke
zwischen den Völkern!
Auf dieser Seite finden Sie:
a) Vorwort des DUG-Präsidenten Klaus Rettel für diese Seite
b) Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen – Staatssekretär Michael Mertes
c) Botschaft des ungarischen Ministerpräsidenten Gyurcsány zum 15. März
d) Rückblick des Gesandten Zsolt Bóta auf 35 Jahre westdeutsch-ungarische Diplomatie
VORWORT
Verehrter Besucher der DUG-Internetseite,
gestatten Sie bitte eine Art Vorwort, das heißt einige einleitende Betrachtungen zu dieser Seite mit Beiträgen aus Anlaß des Erinnerns an die Ereignisse von 1989.
In den kommenden Monaten wird Deutschland in vielen Veranstaltungen die Ereignisse vor zwanzig Jahren würdigen, als ihm das Geschenk der staatlichen Einheit zuteil wurde; oft war zuvor in der deutschen Bevölkerung und Politik das Festhalten am Anspruch auf die staatliche Einheit kritisiert worden – nun fand diese beharrende wie beharrliche Haltung ihre unerwartete Bestätigung. Die Deutschen erinnern sich aus diesem Anlaß gern der Beiträge, die neben nur wenigen westlichen Politikern wie dem US-Präsidenten George Bush sen. vor allem andere Völker für die Wiedergewinnung der deutschen Einheit geleistet haben, darunter aus wohlverstandenem und über jede Kritik erhabenem Eigeninteresse diejenigen Nationen, die sich aus dem Imperium der Sowjetunion – und damit zugleich aus dem Warschauer Pakt und dem Comecon – verabschiedeten.
Dieser scheinbar unerschütterliche sowjetische Monolith war allerdings weitaus brüchiger, als er noch in den Hochzeiten des Kalten Krieges erschienen war: schlecht gegründet, widerwillig-nachlässig errichtet, bröckelnd und meist nur notdürftig repariert. Kaum die Idee, viel eher der politisch-militärische Zwang und der das Individuum erstickende, kollektivistisch unterdrückende 'terreur' (der als entliehenes Machtmittel der französischen Revolution mit dem Begriff 'Terror' nur unzulänglich übersetzt wäre) hielten die Sowjetunion in ihrer Geschichte zusammen. Die Erkenntnis dessen mündete in Glasnost und Perestroika; auf dieser Grundlage das Imperium mittels innerer Überzeugung und ehrlicher Freiwilligkeit seiner Mitglieder reformieren und dennoch als Einheit erhalten zu können war ein Fehlschluß und führte zum endgültigen Zerfall der Sowjetunion mit der Konsequenz des Beschlusses ihrer Auflösung (bezeichnenderweise nannte der russische Staatspräsident Wladimir Putin rückblickend diese Auflösung in seiner Abschiedsrede vom Präsidentenamt unbelehrbar: „Die größte geopolitische Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts“). Aber "Offenheit" und "Umgestaltung" bedeuteten auch, den sowjetischen Satellitenstaaten eine eigene Entwicklung zu gestatten.
Diese Erkenntnis überhaupt gehabt zu haben (und auch vor der des längeren bekannten Realität der desaströsen sowjetischen Wirtschaftsentwicklung bis hin zum Staatsbankrott nicht mehr wie die Amtsvorgänger die Augen verschlossen zu haben, einem Bankrott, der selbst bei verschärfter kolonialer Ausbeutung der Satellitenstaaten nicht aufzuhalten war) war das Verdienst des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und späteren Präsidenten Michail Gorbatschow, des späteren Friedensnobelpreisträgers. Der Überzeugung von Glasnost und Perestroika selbst im Falle der Vereinigung der beiden deutschen Staatshälften zu Lasten der DDR gefolgt zu sein läßt ihn bis in unsere Zeit als einer der maßgeblichen Wegbereiter der deutschen Einheit gefeiert werden.
Eine Kette von zugedeckten Unruhen und offenen Aufständen kennzeichneten die 45 Jahre der Nachkriegsentwicklung in den sowjetischen Satellitenstaaten: 1953 in der DDR, 1956 – sowohl im Juni in Polen (Posener Aufstand) als auch im Oktober/ November in Ungarn –, 1968 in der Tschechoslowakei und schließlich das revolutionäre "polnische Jahrzehnt" der 1980er Jahre, das Polen am 4. und 18. Juni 1989 mit den ersten (teil-)freien Wahlen im sogenannten "Ostblock" für sich abschloß (diese Wahlen, obwohl unabhängig vom Ergebnis 65 Prozent der Parlamentssitze noch der herrschenden PVAP und ihren Satellitenparteien vorbehalten waren und nur die Verteilung der Sitze im Senat von der Entscheidung der Wähler abhängig war, waren psychologisch die Bestätigung für den laufenden ungarischen Refomkurs und leiteten in Ungarn über in das Paneuropäische Picknick beim westungarischen Sopron/Ödenburg am 19. August 1989 sowie später zur Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich für die DDR- Flüchtlinge in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989).
Was polnische Arbeiter in ihrem blutigen Aufbegehren gegen die oktroyierte "Diktatur der Arbeiter und Bauern" mit Unterstützung großer Teile der polnischen Bevölkerung und der katholischen Kirche bewirkten, das fand seine Entsprechung in den die Allmacht der ungarischen kommunistischen Staatspartei MSzMP aushöhlenden Maßnahmen, einem Staatsumbau, den die sogenannten Reformkommunisten über Jahre in Ungarn betrieben. Jede selbst eroberte oder staatlicherseits zugestandene kleine Freiheit wurde von einer innerlich wohlvorbereiteten Bevölkerung begierig aufgenommen, auf ihre Belastbarkeit getestet und in der sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft sofort weiterentwickelt. So revolutionär auch manche der Lösungen waren – es waren gewaltfreie Revolutionen der Ideen und des sie gebärenden Geistes. Denn niemand in Ungarn hatte die nationale Schmach der Niederschlagung einer Revolution durch ausländische Interventionstruppen vergessen, nicht die Kapitulation von 1849 und erst recht nicht die Niederlage von 1956: weder das Volk, das sich des Aufstandes von 1956 im verordneten Sprachgebrauch nur als einer "Konterrevolution", allenfalls als der "bedauerlichen Ereignisse" erinnern durfte, noch die – durch den sich gegen die kommunistische Regierung wendenden bewaffneten Volksaufstand als solchen – seelisch-politisch erschütterten Machthaber, die ihr eigenes Trauma und das der Bevölkerung alsbald mit einem konsumorientierten, durch Schulden finanzierten Leben in der "lustigsten Baracke des Ostblocks" zu überspielen suchten. Die Bevölkerung gab darüber vor, Kádárs Rolle in der Revolution vergessen zu haben, Kádár wiederum gab vor, dieses zu glauben (und verdrängte so das immer präsente Trauma der ungarischen Kommunisten/Sozialisten und vorderhand Kádárs, das ihnen der ihre Politdoktrin zerschmetternde Volksaufstand von 1956 bereitet hatte und dessen Wiederholung sie bis zu ihrem politischen Ende fürchteten, aber mit einem konsumorientierten "Gulaschkommunismus" bannen wollten), denn – so Kádárs Argumentation – wenn niemand (offen) gegen ihn war, konnten doch alle eigentlich nur für ihn sein. Diese wechselseitige Lüge schuf den durch kleine "bürgerliche Freiheiten" und Konsumerfüllung gewährten modus vivendi, der 33 Jahre lang das tägliche Leben unter der Prämisse möglich machte, daß die Vorherrschaft des Kommunismus/Sozialismus und der ihn tragenden Staatspartei nicht angetastet würde.
Und wie die Revolution 1956 sich des anfangs so erfolgreichen bürgerlichen Aufstandes von 1848 erinnerte und dessen Forderungen nach Gewährung von Freiheitsrechten sogar teils wörtlich übernahm, so knüpfte auch das politische Geschehen in den ausgehenden 1980er und in den 1990er Jahren in Ungarn an die Ideen von 1848 an. Seitdem sind der Beginn der Revolution von 1848 am 15. März und der Beginn der Revolution von 1956 am 23. Oktober in Ungarn nationale Feiertage. Es mag weltgeschichtlicher Zufall sein, daß diese beiden Daten vor zwanzig Jahren wie Eckpfeiler des politischen Umschwungs in Ungarn und wie Marksteine der politischen Wende erscheinen: die Feier des 15. März, deren von der bürgerlichen Opposition verantwortetes und von der Staatsgewalt nicht behindertes Programm mehr als 100.000 Teilnehmer – völlig freiwillig, ohne Druck von Partei oder gesellschaftlichen Organisationen – anlockte sowie die am 23. Oktober erfolgte Abschaffung der 1949er Verfassung durch ein Grundgesetz (Gesetz Nr. XXXI/1989), auf Grundlage dessen die Volksrepublik beendet und die Republik Ungarn ausgerufen wurde.
Es entspricht diesem vorgezeichneten Zeitraum, wenn Europa 2009 in den dazwischen liegenden sieben Monaten einer Vielzahl von Daten gedenkt, die gerade erst zwanzig Jahre zurückliegen und den Kontinent auf dem Weg zur Wiedergewinnung der Einheit ein gutes Stück vorangebracht haben (auch wenn in Richtung Osten die "Finalität" Europas, das heißt eigentlich nur die "Finalität der Europäischen Union", umstritten ist).
Es wäre müßig, darüber zu spekulieren, ob und wie auf anderem Wege das damals zerfallende sowjetische Imperium einer europäischen Neuordnung einschließlich der deutschen staatlichen Einheit Raum gegeben hätte. Vielleicht ebenso friedlich, vielleicht in Form von blutigen Staatsstreichen nach dem Vorbild Rumäniens, vielleicht nach verheerenden Revolutionen (die ohne diese von westlichen Journalisten erfundenen unsäglichen schmückenden, abmildernden Beiworte wie "samten", "friedlich", "ausgehandelt" usw. verlaufen wären). Tatsache ist, daß vor nun zwanzig Jahren mehrere hundert Millionen Europäer die Neuordnung ihrer staatlichen Verfaßtheit und damit der europäischen politischen Landkarte in die eigenen Hände genommen und die politisch-ideologische Hinterlassenschaft des Zweiten Weltkriegs beseitigt haben. Die seit dem Mittelalter andauernden Kriege zu überwinden und dadurch einem möglichst großen Teil der Europäer ein Zusammenleben in andauendem Frieden zu ermöglichen sowie zu diesem Zweck die Aussöhnungsarbeit zwischen den ehemals verfeindeten Nachbarn zu fördern und den diese Ziele immer wieder gefährdenden Nationalismus in seinen verschiedenen Formen zurückzudrängen: Seit 1989 ist der Kontinent diesem vorrangigen Ziel große Schritte näher gekommen. Es ist gut und stimmt hoffnungsvoll, daß am Beginn des Weges zu diesem Ziel friedliche Mittel standen und die Wahl der Mittel den Anspruch auf das Ziel nicht diskreditieren konnte. Es ist darüber hinaus unerläßlich, das Ziel der europäischen Friedensordnung eingebettet in Freiheit und Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte und das Selbstbestimmungsrecht zu sehen.
Damit es eine redliche Sicht ist, gehört dazu, sich der Ausgangslage vor zwanzig Jahren immer wieder zu erinnern und nie die Motivation derer, die damals ge- und verhandelt haben, aus dem Gedächtnis zu verlieren – frei nach Kemal Atatürk: Frieden zu Haus (in der eigenen Familien, im eigenen Land, im eigenen Bündnis) heißt Frieden in der Welt!
Es steht einer Gesellschaft wie der deutsch-ungarischen, noch dazu, wenn sie ihren Sitz in der deutschen Hauptstadt Berlin hat, gut an, dieses Gedenken innerhalb der von den beiden ungarischen Nationalfeiertagen begrenzten Zeitspanne zu begleiten; denn neben den nicht weniger dankbar zu erinnernden Vorleistungen und begleitenden Ereignissen in anderen der damaligen Ostblockstaaten bleibt für Deutschland der Schritt zur nationalen Einheit untrennbar mit dem konsequenten Handeln der ungarischen Regierung jener Zeit und der großen Solidarität der ungarischen Bevölkerung verbunden.
Deshalb werden im folgenden auf dieser Internetseite fallweise Grußworte, Reden oder sonstige Beiträge abgedruckt, soweit sie einen Bezug zur Rolle Ungarns in der Wendezeit (im Ungarischen: in der Zeit des "Systemwechsels") haben.
K.R.
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"Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen"
Grußwort von Michael MERTES,
Staatssekretär für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien in der nordrhein-westfälischen Landesregierung,
Bevollmächtigter des Landes Nordrhein-Westfalen beim Bund,
auf dem Empfang des Generalkonsuls der Republik Ungarn Tamás Mydlo
am 12. März 2009 in Düsseldorf anläßlich des ungarischen Nationalfeiertages
I.
Es gehört zum guten Ton, daß man als Redner seine Freude darüber bekundet, an einem festlichen Ereignis teilnehmen zu dürfen. Wenn ich dies heute abend tue, dann genüge ich allerdings nicht bloß einer protokollarischen Konvention, sondern bringe eine sehr intensive Empfindung zum Ausdruck. Diese Freude befreit natürlich nicht von den vielfältigen Sorgen, die uns alle – die einen mehr, die anderen weniger – zur Zeit bedrücken. Aber sie bewahrt uns davor, in einen Pessimismus zu verfallen, der unsere Kräfte lähmt und damit zur Prophezeiung wird, die ihre Bestätigung selbst herbeiführt. Apokalyptische Szenarien sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems!
In seinem heute noch lesenswerten Buch "Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990" berichtet Timothy Garton Ash von einer Begegnung, die er im Juni 1989, am Tag vor der feierlichen Beisetzung des rehabilitierten Imre Nagy, mit Árpád Göncz hatte. „Wissen Sie“, sagte der damals 67 Jahre alte Göncz, „ich bin glücklich, so lange gelebt zu haben, um das Ende dieses Desasters zu sehen, aber ich würde gern vor Beginn des nächsten sterben.“ Garton Ash kommentiert: „Der ungarische Pessimismus ist ebenso unheilbar wie der polnische Optimismus. Aber beide sind gleichermaßen reich mit dem größten Naturschatz ausgestattet, den Mitteleuropa zu bieten hat: mit Ironie.“ Ironie schafft Distanz. Nur aus der Distanz heraus sind wir in der Lage, die aktuellen Probleme im größeren Kontext zu sehen – und das heißt immer auch: sie zu relativieren.
Zwanzig Jahre Ende des Eisernen Vorhangs, zehn Jahre Nato-Mitgliedschaft, fünf Jahre EU-Mitgliedschaft Ungarns – jedes dieser Jubiläen ist für sich genommen ein Grund zum Feiern. Die weltweite Finanzkrise, so las ich kürzlich in einer Zeitung, habe die Jubiläumsparty verdorben. Ich sehe das ganz anders. Die erfreulichen Ereignisse der Jahre 1989, 1999 und 2004 erinnern uns daran, daß sich mit langem Atem, mit Unverzagtheit und Hartnäckigkeit sogar Ziele erreichen lassen, die von sogenannten Realisten als utopisch belächelt werden. Diese historische Erfahrung kann uns mit Zuversicht erfüllen – einer Zuversicht, die nichts mit gedankenloser Schönfärberei zu tun hat, sondern sich mit Vernunftgründen rechtfertigen läßt. Lassen Sie mich eines der großen vor uns liegenden Ziele ganz konkret beim Namen nennen: Ich wünsche mir, daß Ungarn es in absehbarer Zeit schafft, die Bedingungen für eine Aufnahme in die Eurozone zu erfüllen!
II.
Heute abend habe ich nicht nur die Freude, mit Ihnen zu feiern. Ich darf Ihnen allen auch die besten Grüße – und unseren ungarischen Freunden die herzlichen Glückwünsche – der nordrhein-westfälischen Landesregierung, namentlich unseres Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, zum ungarischen Nationalfeiertag überbringen.
Diese Zusammenkunft ist eine hervorragende Gelegenheit, um die deutsch-ungarische Freundschaft zu würdigen. Unsere Freundschaft steht auf einer festen Grundlage, und das Land Nordrhein-Westfalen ist stolz darauf, dank seiner besonders engen Beziehung zur Republik Ungarn ein wichtiger Teil dieses Fundaments zu sein. In Ungarn sieht man sehr klar – klarer als in vielen anderen Staaten Europas – daß die Zusammenarbeit mit Deutschland nicht allein durch das Nadelöhr Berlin läuft, sondern daß es sich lohnt, direkt in die Landeshauptstädte zu gehen, um Kooperationen etwa in den Bereichen Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Medienpolitik zu vereinbaren.
Der eine oder andere von Ihnen, meine Damen und Herren, wird sich gewiß noch an die denkwürdige Lesung von György Konrád in der Staatskanzlei vor ziemlich genau einem Jahr erinnern – eine Lesung im Rahmen der vom nordrhein-westfälischen Europaminister veranstalteten Reihe "Europa erlesen".
Im April vergangenen Jahres unterzeichneten die Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány und Jürgen Rüttgers in Budapest eine Gemeinsame Erklärung zwischen Ungarn und Nordrhein-Westfalen über eine verstärkte Partnerschaft. Diese Vereinbarung hat eine lange und erfreuliche Vorgeschichte unter den Ministerpräsidenten Rau, Clement und Steinbrück. Sie dokumentiert ein wichtiges Stück nordrhein-westfälischer Kontinuität. Wir verstehen sie als krönenden Abschluß, der auch ein Aufbruch zu neuen Ufern sein soll.
Wenn wir nach vorn schauen, dann fällt unser Blick natürlich auf die Kulturhauptstädte Pécs 2010 und RUHR.2010. Der Titel "Kulturhauptstadt Europas" hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Er verweist mittlerweile auf ein nationales Ereignis mit internationaler Bedeutung. Pécs 2010 und RUHR.2010 haben die internationale Dimension des Titels aktiv aufgegriffen, sich untereinander vernetzt und ihre Zusammenarbeit – nicht zuletzt mit dem Dritten im Bunde, nämlich Istanbul 2010 – verstärkt. Betrachten wir dieses gelungene Beispiel deutsch-ungarischer Zusammenarbeit als gutes Omen! Es zeigt einmal mehr: Die Zusammenarbeit Nordrhein-Westfalens mit Ungarn hat mittlerweile eine Dichte und Qualität erreicht, die bei kaum einem anderen Land in Mittel- und Osteuropa erreicht wird – und wir haben ein starkes Interesse daran, dieses Miteinander weiter auszubauen.
III.
Ich habe es bereits angedeutet: In diesem Jahr steht der ungarische Nationalfeiertag im Zeichen bedeutender Jubiläen – und zugleich im Zeichen einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die nicht zuletzt unser Verständnis von europäischer Solidarität auf eine harte Probe stellt.
Bereits 1848/49, vor 160 Jahren, brach sich die Erkenntnis Bahn, daß wir Europäer in einem Boot sitzen, wenn es um die Verteidigung fundamentaler Werte geht. Freiheit und Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte sind keine innere Angelegenheit einzelner Nationen, sondern gemeinsame Güter. So breitete sich das Feuer der Februarrevolution 1848 in Paris wie ein Flächenbrand aus und begeisterte Menschen überall auf unserem Kontinent – in Italien und Deutschland ebenso wie in Ungarn, Böhmen oder Polen. In Ungarn entflammte Lajos Kossuth mit einer begeisternden Rede am 3. März 1848 seine Landsleute. Übrigens sollen ihn weniger die Nachrichten von der Februarrevolution in Paris als vielmehr deren negative Auswirkungen auf den österreichischen Finanzmarkt, die wiederum eine Verschärfung der wirtschaftlichen Not befürchten ließen, dazu bewogen haben, das Wort vor den Delegierten des ungarischen Reichstags zu ergreifen.
Vor 160 Jahren waren die Ideale nationaler Unabhängigkeit und freiheitlicher Demokratie miteinander verschwistert. Es gab aber auch schon Stimmen, die auf das zerstörerische Potential eines ethnozentrischen, vom Freiheitsideal sich abkoppelnden Nationalismus hinwiesen. Am bekanntesten ist die Warnung des konservativen österreichischen Schriftstellers Franz Grillparzer, der seine Befürchtungen in dem Satz zusammenfaßte: „Der Weg der neueren Menschheit geht von der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität.“ Heute wissen wir, daß diese Warnung berechtigt war. Vor zwanzig Jahren haben wir aber auch erlebt, wie viel Gutes die Kombination von Vaterlandsliebe und Freiheitsliebe hervorbringen kann – vor allem dann, wenn sie sich mit dem Wunsch nach europäischer Integration verbindet.
Erinnern wir uns: "Heimkehr nach Europa" war eine der Losungen des "annus mirabilis" 1989. In Ungarn verkörperte – um nur einen Namen zu nennen – der unvergessene József Antall diesen freiheitlichen Patriotismus in europäischer Perspektive. Übrigens entlarvte das Motto "Heimkehr nach Europa" den Monopolanspruch der Europäischen Gemeinschaft auf die Bezeichnung "Europa" als semantischen Unsinn. Besonders schön hatte dies schon 1988 der polnische Philosoph Leszek Ko?akowski formuliert: „Solange die ostmitteleuropäischen Völker gute Gründe haben zu fühlen, daß sie mit Gewalt aus ihrer historischen Kontinuität gerissen worden sind, solange bleibt ganz Europa krank.“
Das Gedenkjahr 2009 bietet reichlich erfreuliche Anlässe, den historischen Triumph von Freiheit, Menschenrechten und Selbstbestimmung in Mittel-, Ost und Südosteuropa zu würdigen. Und dabei wird Ungarn ein herausragender Platz gebühren. Vor Ihrem Kreis, meine Damen und Herren, trage ich Eulen nach Athen, wenn ich an den 27. Juni 1989 erinnere – jenen Tag, als der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock bei Sopron gemeinsam den Grenzzaun zwischen ihren beiden Ländern durchtrennten, um den bereits am 2. Mai begonnenen Abbau des Eisernen Vorhangs durch Ungarn vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu bekräftigen. Es war vor allem dieses Ereignis, das den sommerlichen Flüchtlingsstrom aus der DDR auslöste, in der Folgezeit den Sturz des SED-Regimes herbeiführte, die deutsche Einheit ermöglichte und letztlich auch zum Ende der Sowjetunion beitrug. Gewiß erinnern sich viele von Ihnen noch an den Satz, mit dem der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl die entscheidende Rolle Ungarns im Epochenjahr 1989 würdigte: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen.“ Dafür, liebe ungarische Freunde, bleiben wir Deutschen Ihrem Land für immer dankbar!
Ich hatte in dieser aufregenden Zeit das Glück, in der politischen Planungsgruppe des Bonner Bundeskanzleramtes tätig zu sein. Schon im Juni 1989 begannen wir, uns die Frage zu stellen, ob die Europäische Gemeinschaft nicht die Pflicht – und auch ein vitales Interesse – habe, den damals noch sogenannten Reformstaaten im zerfallenden Ostblock die Perspektive einer Mitgliedschaft anzubieten. Innerhalb weniger Monate verdichtete sich die Antwort zu einem klaren "Ja".
In seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989 erklärte Helmut Kohl unter anderem: „Den Prozeß der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir immer auch als europäisches Anliegen. Er muß deshalb auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration gesehen werden. Ich will es ganz einfach so formulieren: Die EG darf nicht an der Elbe enden, sondern muß die Offenheit auch nach Osten wahren. Nur in diesem Sinne – wir haben das Europa der Zwölf immer nur als einen Teil und nicht als das Ganze verstanden – kann die Europäische Gemeinschaft Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung werden. Nur in diesem Sinne wahrt, behauptet und entwickelt sie die Identität aller Europäer.“ Nach meiner Kenntnis war Kohl mit diesen Sätzen der erste unter den Staats- und Regierungschefs in der EG, der eine solche Forderung erhob. Sie verstand sich damals keineswegs von selbst. Es hat ja auch lange – für meinen Geschmack allzu lange – gedauert, bis Ungarn endlich Mitglied der EU wurde (wie die Gemeinschaft seit dem Vertrag von Maastricht heißt). Heute gehört Ungarn dazu – und auch das ist, wie ich eingangs schon sagte, ein Grund zum Feiern.
IV.
Vor einigen Tagen veröffentlichte Gideon Rachman, ein bekennender Euroskeptiker, in der "Financial Times" eine bemerkenswerte Laudatio auf die von ihm so häufig kritisierte Europäische Union. Sie sei, so schrieb er, „das beste uns zu Verfügung stehende Beispiel für einen zwischenstaatlichen Steuerungsmechanismus. Sollte sie unter dem Druck der Krise auseinanderbrechen, wäre die Aussicht, andere schwierige Probleme auf unserem Globus zu lösen, sehr viel trüber.“ Und in nächster Zeit bestehe nun einmal das Risiko einer Desintegration der EU.
„Wenn Sie Europa mit anderen Teilen der Welt vergleichen“, fährt Rachman fort, „sieht es immer noch ziemlich gut aus – wohlhabend, friedlich, frei, nicht besonders aufregend. Doch zum Problem der EU gehört, daß ihre wichtigsten Errungenschaften technokratisch und langweilig erscheinen. Es gibt eben mitreißendere Slogans als den Ruf 'Verteidigt den Binnenmarkt!'. Aber die 'Vier Freiheiten' stehen für wichtige Rechte: das Recht, überall in Europa zu leben und zu arbeiten; das Recht, ohne Behinderung durch Behörden Geschäfte zu machen; das Recht, einen Zug nach Paris oder ein Flugzeug nach Madrid zu besteigen, ohne bei der Paßkontrolle schikaniert zu werden.“
„In den kommenden Jahren“, so beschließt Rachman sein Lob auf die EU, „wird die eigentlichen Bedrohung für diese Freiheiten von nationalen Regierungen ausgehen, die in Panik verfallen – und gerade nicht von den gefürchteten Brüsseler Bürokraten. Im Gegenteil, es wird Aufgabe einer geschwächten Europäischen Kommission sein, Kurs zu halten. Wie seltsam: Inzwischen empfinde ich eine Art liebevolles Beschützergefühl für die umstrittenen Eurokraten in ihren Brüsseler Bürotürmen!“
Diesen Ansichten eines Euroskeptikers kann ich als Euroenthusiast nur zustimmen – auch wenn ich meine, daß die EU mehr ist als lediglich ein "zwischenstaatlicher Steuerungsmechanismus". Wie Rachman sehe ich die Gefahr, daß manche nationale Regierung angesichts der Krise bereit sein könnte, Grundsätze preiszugeben, ohne die es die beispiellose Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung nie gegeben hätte. So gesehen, steht die EU heute vor einer Bewährungsprobe, die ungleich größer ist als die Herausforderungen durch das französische und das niederländische "Nein" zum Europäischen Verfassungsvertrag oder das irische "Nein" zum Vertrag von Lissabon.
Ökonomischer Nationalismus – besser bekannt unter der verharmlosenden Bezeichnung "Protektionismus" – wäre ein Sprengsatz für die Integration, sozusagen Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Protektionismus mag einzelnen Mitgliedstaaten kurzfristig Erleichterung verschaffen – aber mittel- und langfristig unterminiert er das Fundament unseres gemeinsamen Wohlstands. Das verbindet ihn übrigens mit der Mentalität von Finanzmarktakteuren, die auf der Jagd nach schnellen Vorteilen das Prinzip der Nachhaltigkeit mißachtet und mit viel heißer Luft dazu beigetragen haben, daß eine gigantische Kreditblase entstehen konnte.
Zu den Grundsätzen, die wir nicht in Panik über Bord werfen dürfen, gehören nicht zuletzt die Regelungen, die den Euro stark gemacht haben – stark genug, um der globalen Finanzmarktkrise (in der nach Schätzung der Asiatischen Entwicklungsbank bisher schon mehr als 50 Billionen Dollar Anlagevermögen vernichtet wurden!) standhalten zu können. Dazu zähle ich vor allem die Erfüllung der Konvergenzkriterien mit Blick auf die Einführung des Euros, die Verpflichtung zur Haushaltsdisziplin nach der Einführung des Euros und die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Heute bewahren diese Grundsätze die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion davor, in den globalen finanzpolitischen Strudel gerissen zu werden. Es ist verständlich, wenn inzwischen weitere europäische Länder mit Macht unter den Schirm des Euros drängen. Auch diesen Staaten kommt es aber zugute, wenn wir jetzt nicht von den strengen Stabilitätskriterien abweichen. Denn niemand kann ein Interesse daran haben, daß der Euro instabil wird – weder die Mitglieder der Europäischen Währungsunion noch jene Länder, die den Euro möglichst bald bei sich einführen möchten.
V.
Vor zwanzig Jahren war das Wort vom "gemeinsamen europäischen Haus" in aller Munde – Michail Gorbatschow benutzte es gern, aber schon in den 1960er Jahren hatte Konrad Adenauer diese Metapher verwendet. Für mich trägt das gemeinsame europäische Haus den Namen "Europäische Union". Bisher hat es sich als wetterfest erwiesen – doch jetzt müssen wir gemeinsam darangehen, alle sichtbar gewordenen Schwachstellen zu reparieren, damit es auch künftigen Stürmen zu trotzen vermag. Denn eines ist klar: Wenn es einem Hausbewohner schlecht geht, dann werden über kurz oder lang auch die anderen Hausbewohner in Mitleidenschaft gezogen. Auf diese Erkenntnis ist unsere Solidarität gegründet.
Schauen wir auf die epochalen Umbrüche vor zwanzig Jahren zurück, dann dürfen wir Mut auch im Blick auf die Gegenwart schöpfen – denn daß scheinbar unüberwindliche Mauern bezwungen werden können ist die nach wie vor gültige Lektion von 1989. Dafür sind wir unseren ungarischen Freunden zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Und deshalb haben wir heute allen Grund, unbeschwert miteinander zu feiern.
Es lebe die Republik Ungarn!
Es lebe die deutsch-ungarische Freundschaft!
Es lebe das vereinte Europa!
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Botschaft
des Ministerpräsidenten der Republik Ungarn S. E. Ferenc GYURCSÁNY
an die im Ausland lebenden Ungarn und ihre Gäste
aus Anlaß des ungarischen Nationalfeiertages des 15. März
Sehr geehrte feiernde Ungarn! Sehr geehrte Gäste!
Der März 1848 brachte die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für die Völker Europas. Einhunderteinundsechzig Jahre später werden diese Ideen zwar anders betont, aber immer noch haben sie Aktualität, und die Geschichte sorgt dafür, daß sich jede Generation notwendigerweise mit diesen auseinandersetzen und diese erkämpfen muß.
Die Völker Europas heutzutage sehen sich mit nicht minderschweren Herausforderungen konfrontiert, wie sie unsere Helden der Revolutionen vor anderthalb Jahrhunderten zu bestehen hatten. Mit der Gefahr der Weltwirtschaftskrise scheint die mit Blutopfer geheiligte europäische Einheit der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit zu wanken. Wie aber in den Zeiten der Revolution von 1848 müssen wir auch diesmal einsehen, daß wir unsere Probleme nur mit gemeinsamer Kraft, mit einheitlichem Willen lösen können.
Ab dem letzten Jahrzehnt des XX. Jahrhunderts, als alle Ungarn frei und gemeinsam die Feier der Freiheit feiern konnten, als eine Vielzahl positiver Prozesse anfingen, hofften wir, daß die Wünsche der Jugend vom März 1848 endgültig in Erfüllung gehen würden. Die ersten Jahre des XXI. Jahrhunderts ließen uns hoffen, daß sich die früher entstandenen Spannungen zwischen den Nationen und Ethnien im Zeichen der Solidarität, Zusammenarbeit und Toleranz auflösen könnten. Die globale Krise würde gerade diese unserer Hoffnungen ins Wanken bringen.
Die große Frage des 15. März 2009 ist, ob wir uns als Ungarn und Europäer behaupten und ob wir stärker werden können – in den Zeiten einer Krise, die zwar kein Blut, aber auf jeden Fall Opfer fordern wird. Bewahrt Europa seine Errungenschaften von 1848, oder setzt es die Idee der Brüderlichkeit in Klammern?
Die euphorische Begeisterung vom 15. März 1848 vereinte mehrere Zehntausende Ungarn nicht nur für einen einzigen Tag in Pest und Buda, sondern jeder in jedem Winkel des Landes brachte sein Opfer für den Erfolg der Revolution. Die Völker Europas der Jahre 1848/1849 traten mit einheitlichem Willen und gleichem Ziel für ihre eigenen Rechte ein. Das zeigte sich am Beispiel des auf Seiten der ungarischen Revolutionäre kämpfenden polnischen Generals "Vater Bem" oder am Beispiel der revolutionären Wiener Studenten, welche bereit waren, füreinander und für andere auch das größte Opfer zu bringen.
Mitten in der jetzigen Weltkrise haben heute die Entscheidungsträger und auch jeder Bürger riesige Verantwortung. Die große Herausforderung der EU besteht darin, daß die Folgen der Krise weder die Gemeinschaft noch ihre einzelnen Mitglieder extrem schwächen dürfen. Die Verantwortung der führenden Politiker der Mitgliedsstaaten besteht darin, daß die größten Schwierigkeiten der Krise nicht die Minderheiten in einer diese am meisten benachteiligenden Lage überrollen. Die Probleme, die vor uns stehen, können wir – Europäer und Nicht-Europäer, Ungarn und Nicht-Ungarn, Mehrheitsbevölkerungen in den einzelnen Staaten und Mitglieder der dortigen Minderheiten – nur gemeinsam bekämpfen.
Mit vereinten Kräften und mit gemeinsamem Willen haben wir den Weg auch schon aus viel schlimmeren Situationen gefunden und jegliche Tyrannei, Diktatur und Unterdrückung bekämpft. Unsere Vorfahren vor einhunderteinundsechzig Jahren haben die entsprechenden Antworten auf die Herausforderungen ihrer Zeit gefunden und die bis heute unverändert gültigen und von uns zu befolgenden Ziele formuliert.
Neigen wir nun unsere Häupter vor denjenigen, die im März 1848 mit dem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die ungarische Nation frei und erfolgreich machen wollten. Neigen wir unsere Köpfe, und folgen wir ihrem Beispiel!
Ich vertraue darauf, daß wir auch diesmal genügend Kraft und Weisheit haben werden, um den richtigen Weg zu finden.
Ich hoffe, daß wir, auf die Werte unserer Vorfahren gestützt, gemeinsam in der Lage sein werden, Ungarn zu erneuern und die Nation zu stärken.
(Diese Grußbotschaft wurde vom Botschafter der Republik Ungarn S. E. Dr. Sándor Peisch auf der Feierstunde im Gebäude der ungarischen Botschaft am 16. März 2009 verlesen und der DUG freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassen.)
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Rückblick: Vor 35 Jahren –
Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn
Zsolt Bóta, Gesandter an der Botschaft der Republik Ungarn in Berlin
Nach der Niederlage des Volksaufstandes fiel Ungarn außenpolitisch – durch einen vollständigen Verzicht auf eine eigene Außenpolitik – praktisch in den Zustand von vor 1956 zurück. So konnte Parteichef János Kádár bewußt innenpolitisch etwas Freiraum gewinnen und das ungarische Sozialismus-Modell durch die Einführung einiger marktwirtschaftsähnlichen Elemente erfolgreich verwirklichen. Eine Übertragung des "Kádárismus" auf die damalige Außenpolitik fand jedoch bis Ende der 1960er Jahre nicht statt. In allen wichtigen außenpolitischen Fragen identifizierte sich Ungarn mit dem Standpunkt Moskaus.
In der gleichen Periode, vor allem nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 – wobei János Kádár wohlgemerkt einer der Parteiführer im Ostblock war, der von der Errichtung der Mauer abriet – erlebte auch die Bundesrepublik Deutschland eine außenpolitische Umorientierung und einen Stimmungsumschwung: Anerkennung der jeweiligen Einflußsphären und Abgrenzung gerieten auf die politische Agenda. Mit der von dem damaligen Bundesaußenminister Gerhard Schröder eingeleiteten Politik der "selektiven Normalisierung der Beziehungen mit dem Osten" kam es seit 1961 zu einer etappenweisen Neuorientierung in der westdeutschen Ost- und Deutschlandpolitik. Während der Regierungszeit von Bundeskanzler Willy Brandt von 1969 bis 1974 wurde diese Neuorientierung noch markanter. Der Moskauer Vertrag, der Warschauer Vertrag mit Polen, das Viermächte-Abkommen über Berlin, die internationale Anerkennung der DDR waren Meilensteine auf diesem Weg. Diese neue Ostpolitik öffnete die Tür für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn. Das geschah 1973. Dahin führte aber ein langer Prozeß mit mehreren Haltestellen.
Nach langwierigen Verhandlungen nahmen im Jahre 1964 Handelsvertretungen jeweils in Budapest und in Frankfurt ihre Arbeit auf. Am 15. Oktober 1969 wurde der Vertrag veröffentlicht, der die Handelsvertretungen Ungarns und der Bundesrepublik Deutschland berechtigte, gegenseitig Reisepapiere zu bearbeiten und Visa auszustellen. In den folgenden Jahren signalisierten Kooperationsverträge und das beidseitige Wachstum der Besucherzahlen die Veränderung in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern. 1973 waren bereits mehr als hundert Kooperationsverträge zwischen Unternehmen beider Staaten in Kraft. Im März 1970 kam mit Außenhandelsminister József Bíró erstmals ein Mitglied der ungarischen Regierung nach Westdeutschland. Als Resultat der Wirtschaftsverhandlungen wurde ein halbes Jahr später, im September, in Bonn ein über fünf Jahre laufender Vertrag über den Warenverkehr und die wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit paraphiert und dann im Oktober unterzeichnet. Im Dezember 1972 wurde der Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten unterschrieben, dadurch war auch das letzte Hindernis für eine Normalisierung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Ostblockländern aus dem Weg geräumt. Die Außenminister Scheel und Péter trafen sich im Juni 1973 in Helsinki, wo sie sich darüber einigten, Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu führen. Diese Verhandlungen verliefen jedoch nicht vollkommen erfolgreich, denn es gab unterschiedliche Interpretationen bei der Auslegung des Viermächte-Abkommens in Bezug auf West-Berlin. Daher kam es erst nach Annahme des Moskauer Rechthilfe-Modells in den Verhandlungen vom 12. und 13. Dezember 1973 zur Einigung über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen. Im Sinne dieser Einigung durfte die bundesdeutsche Botschaft in Budapest die Konsularvertretung für ständige Bewohner West-Berlins übernehmen. Die Ungarische Volksrepublik und die Bundesrepublik Deutschland nahmen offiziell am 21. Dezember 1973 die diplomatischen Beziehungen auf, und der erste ungarische Botschafter László Hamburger überreichte sein Beglaubigungsschreiben am 21. Januar 1974.
Im Bereich der Wirtschaft waren die Beziehungen zwischen den beiden Staaten schon vorher ziemlich intensiv gewesen. Wie die anderen Mitglieder des (zentralwirtschaftsverwalteten sozialistischen) Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, auf englisch COMECON) suchte auch Ungarn in den 1960er Jahren den technischen Fortschritt der Wirtschaft durch die vermehrte Einfuhr von Kapitalgütern und Technologien aus den westlichen Industriestaaten zu beschleunigen. Deutschland spielte für Ungarn eindeutig die Rolle des wirtschaftlichen "Modernisierungsankers". Die für beide Seiten zufriedenstellenden Beziehungen waren auch an der hohen Anzahl der gegenseitigen Besuche hochrangiger Politiker abzulesen. 1977 wurde ein Kulturabkommen zwischen beiden Staaten abgeschlossen. Ab Anfang der 1980er Jahre waren sogar längere Studienaufenthalte in der Bundesrepublik Deutschland relativ einfach zu verwirklichen.
Das Jahr 1989, das "Wunderjahr" (annus mirabilis) verkörpert einen Meilenstein in den gegenwärtigen bilateralen Beziehungen. Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für die nach Westen strebenden DDR-Flüchtlinge, ein epochales Ereignis, dessen 20. Jahrestages gerade in diesem Jahr (2009) gedacht und der feierlich begangen wird, sowie die Erkenntnis, daß Ungarn den ersten Stein aus der Berliner Mauer herausschlug (nach Helmut Kohl), prägen langfristig und positiv das Image Ungarns in Deutschland. Sinngemäß haben die politischen Beziehungen nach der Wende in Ungarn und als Folge der Vereinigung Deutschlands eine hohe Intensität erreicht. Der 1992 in Budapest unterzeichnete Vertrag über die freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn betont Ungarns Rolle im deutschen Einigungsprozeß und "die in Jahrhunderten gewachsene traditionelle Freundschaft zwischen beiden Völkern und Ländern". Geographisch ist Ungarn zwar kein Nachbarland Deutschlands, aber Ungarn wird von Deutschland als "Nachbarland ohne gemeinsame Grenzen" wahrgenommen und behandelt. Diese Gesinnung begleitete die engagierte deutsche Unterstützung für die Bemühungen Ungarns um seine zügige euroatlantische Integration, die 1999 zum NATO-Beitritt und 2004 zum EU-Beitritt führten. Heutzutage arbeiten beide Länder als Bündnispartner eng zusammen.
Die Intensität der Abhängigkeit ist in den deutsch-ungarischen Beziehungen allerdings unterschiedlich. Demzufolge sollte Deutschland – aber nur für einen außenstehenden Beobachter! – die Rolle des "Politikmachers" spielen, während sich Ungarn mit der Rolle des "Politikempfängers" zufrieden geben müßte. In der Wirklichkeit existiert eine echte Partnerschaft zwischen den beiden Ländern: Positionen in der Europapolitik etwa, die sich meistens ohnehin überschneiden, werden übereinstimmend geregelt, und dadurch gehört auch Ungarn – zusammen mit Deutschland – zu den Ländern, die in der EU den "Mainstream" vertreten. Im Gegensatz zum früheren durch Moskau dominierten Abhängigkeitsverhältnis hält die ungarische Gesellschaft Deutschlands wirtschaftliche und politische Führungsrolle für ein "normales Abhängigkeitsverhältnis", das zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung Ungarns einen wichtigen Beitrag leistet. Das ist Grund genug, um die Perspektiven der deutsch-ungarischen Beziehungen in diesem 21. Jahrhundert mit deutlichem Optimismus einzuschätzen und auf die Früchte der 35 Jahre alten diplomatischen Kontakte mit Zufriedenheit zurückzublicken.
(Die DUG dankt dem Autor für seine Bereitschaft, seine für das ungarische Außenministerium entwickelten und von diesem im Internet (http://www.mfa.gov.hu/kulkepviselet/DE/de/de_hirek/081218_35jahre.htm?printable=true) veröffentlichten Gedanken zusätzlich auf die DUG-Internetseite aufnehmen zu lassen.)