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Die Deutsch-Ungarische
Gesellschaft e. V. (DUG) -
eine tragfähige Brücke
zwischen den Völkern!
21. JANUAR 2013 (Berlin) / 22. JANUAR 2013 (Leipzig)
Pazifizierungspolitik in der nach-osmanischen Periode in Ungarn (Militärische und finanzielle Veränderungen in der Habsburgermonarchie und im Königreich Ungarn an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert)
VORTRAG von Dr. András OROSS, Oberarchivar im Ungarischen Nationalarchiv, Stellvertr. Leiter der Abteilung für die zentralen Regierungsorgane (1867-1944)
EINFÜHRUNG IN DEN VORTRAG UND ANGABEN ZUM GESCHICHTLICH-INHALTLICHEN HINTERGRUND:
Die Erforschung der frühneuzeitlichen Militärgeschichte hat in der internationalen Geschichtswissenschaft während der letzten Jahrzehnte wieder an Bedeutung gewonnen. Eine wesentliche, immer wieder diskutierte Zäsur (nach Auffassung der ungarischen Wissenschaftler einen "Epochenwechsel") stellt der Übergang von Söldnerarmeen zu stehenden Heeren seit der Mitte des 17. Jahrhunderts dar. Dies gilt auch für das Militärwesen der Habsburger Monarchie (zur eurozentrischen Sicht einer angeblich grundsätzlichen Überlegenheit der Kriegführung seitens der europäischen Mächte, der besseren Waffentechnik, der effektiveren Organisation von Waffenerwerb und -nachschub einerseits und andererseits zur Auseinandersetzung mit der Meinung des britischen Historikers Noel Geoffrey Parker, der hinter der Frage, ob die weithin behauptete "militärische Revolution" zwischen 1560 und 1660 ein Mythos sei, die Auffassung verbirgt, daß die habsburgischen Donauländer von der überall sonst in Europa stattfindenden militärischen Neuordnung lange Zeit ausgespart geblieben seien: vgl. eingehend Gábor Ágoston "Habsburgs and Ottomans - Defense, Military Change and Shifts in Power" mit weiteren Nachweisen).
Losgelöst von diesen Fragen will sich das Referat von Dr. Oross mit der Heeresreform der Habsburger und den baulichen Verteidigungsanlagen im Bereich der Militärgrenze befassen. Denn die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zeigte den Bedarf für ein neues, jederzeit zu mobilisierendes und überall einzusetzendes "ständiges Heer". Zur Versorgung der Heeresangehörigen brauchte man neben Geld auch passende institutionell-organisatorische Voraussetzungen. Nicht mehr die Stände, "private" Söldnertruppen der Adligen sowie die Gestellung schlecht bis gar nicht ausgebildeter Soldaten von Seiten der verpflichteten Städte und Dörfer waren für die Bemannung der Heere verantwortlich, sondern des Kaisers untergeordnete Beamte: Es wurde in jenem Jahrhundert der in der internationalen Fachliteratur als "fiscal-military state" bezeichnete moderne Staat entwickelt.
In Ungarn waren diese Jahrzehnte von dem Abwehrkampf gegen die Osmanen geprägt. Die Beendigung der osmanischen Belagerung Wiens am 12. September 1683 hatte die entscheidende militärische Wende gebracht (auch der letzte Versuch eines Widerstandes der Osmanen noch auf ungarischem Boden wurde in der Schlacht bei Párkány [ungar. Párkányi csata; türk.: Cigerdelen savasi; nahe dem heute slowakischen Štúrovo auf dem der ungarischen Stadt Esztergom/Gran gegenüberliegenden Donauseite] am 9. Oktober zerschlagen – trotz des zwei Tage zuvor von den Osmanen fast erzielten Sieges gegen die in einen Hinterhalt geratene Vorhut des polnischen Königs Johann III. Sobieski, der dabei fast zu Tode kam, offenbarte nun deren Niederlage gegen die unter Karl von Lothringen herangeführte Verstärkung die physischen und psychischen Schwächen des osmanischen Heeres, was übrigens das auslösende Moment für Habsburg wurde, von seiner auf Bewahrung der errungenen Positionen abzielenden Kriegstaktik auf eine Politik der aktiven Vertreibung der Osmanen umzuschwenken).
Juliusz Kossak (1883): Bitwa pod Parkanami (Schlacht bei Párkány)
[http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bitwa_pod_Parkanami.jpg]
Für Ungarn kam die Wende nach dem 1684 gescheiterten Rückeroberungsversuch Budas, des ersten im Jahr der Gründung der "Heiligen Liga" unternommenen militärischen Engagements der in ihr vereinten europäischen Mächte, mit der dann erfolgreichen Befreiung der Stadt zwei Jahre später: Die kaiserlich-habsburgischen Truppen übernahmen in den "Türkenkriegen" die Initiative; langsam, aber stetig wurden die Osmanen zuerst aus Ungarn, dann aus dem nördlichen Balkan zurückgedrängt. Der Friedensschluß von Karlowitz (1699), an dem weder die Ungarn noch die Kroaten beteiligt wurden, sicherte den Habsburgern den endgültigen, von den übrigen Mitgliedern der Heiligen Liga anerkannten Erwerb Ungarns einschließlich Siebenbürgens, aber nicht des Banats von Temeswar. Die Dreiteilung Ungarns in das nordwestliche "königliche Ungarn" unter Habsburger Führung, in das von den Osmanen besetzte Mittelungarn und das den Osmanen tributpflichtige, im übrigen aber innenpolitisch und kulturell autonome Fürstentum Siebenbürgen unter osmanischer Aufsicht war beendet. Die im Süden bis ins heutige Kroatien und Serbien reichende osmanische Verwaltungseinheit Eyâlet Budin mit Sitz in Buda war zerschlagen, und ihre Teilgebiete wurden über die folgenden Jahre von der Heiligen Liga erobert.
Die Situation, die Leopold I. und seine Behörden bewältigen mußten, war nach der langjährigen Kriegssituation völlig neu – erstmals seit der (1.) Schlacht von Mohács 1526 herrschte im Königreich Ungarn Frieden, die territoriale Einheit des Landes war mehr oder weniger hergestellt. Die Befriedung des Landes, die Demilitarisierung der Gesellschaft, die Verbesserung der Einnahmen, die Wiederbevölkerung der von den äußeren und inneren Kriegen verwüsteten Gebiete und die Integration des ungarischen Königreichs in die Habsburger Monarchie bildeten dabei die größten Herausforderungen. Wegen der Unzufriedenheit der politischen Elite (in Sonderheit die Zerstrittenheit, die Eifersüchteleien und die persönlichen Ambitionen innerhalb des siebenbürgischen Adels in der Frage, ob man die neue Situation eines unter der Oberhoheit Habsburgs stehenden Siebenbürgens nutzen sollte oder ob es vorteilhafter sei, Siebenbürgen aus der Verbindung mit dem Habsburgerreich zu lösen, ggf. mit folgendem Anschluß an das ungarische Königreich) hatten die Lösungsvorschläge keinen Erfolg, obwohl das Land und seine Stände (nationes) am Vorabend des die wichtigsten westeuropäischen Staaten involvierenden Spanischen Erbfolgekriegs, welcher militärische und finanzielle Interventionsmittel der Habsburger im westlichen Europa und vor allem in Norditalien band, eigentlich Frieden und keine Rebellion gebraucht hätten (der Rákóczi-Aufstand – der diese Schwäche der österreichischen Habsburger mit ins Kalkül gezogen hatte [s. dazu später] – erlitt nach Interventionsvorbereitungen des Prinzen Eugen von Savoyen 2003 in Preßburg dann Ende 2004 in der Schlacht bei Tyrnau durch General Heister seine erste Niederlage, konnte sich aber über die Folgejahre bis 2010 hinziehen, da ihm niemals eine alles entscheidende Niederlage widerfuhr).
Diese inneren Frontenbildungen wurden nicht etwa durch berechtigte Freude über die Vereinigung des dreigeteilten Ungarns überwunden (wenn sie auch durch die ungarischerseits als Unterjochung bekämpfte, aber völkerrechtlich – auf Grundlage des auf Betreiben von Papst Innozenz XI. im März 1684 geschlossenen Bündnisvertrags Habsburgs mit dem polnischen Königreich und der venetianischen Dogenrepublik – damals kaum anfechtbare Angliederung Ungarns an die Habsburger Monarchie getrübt wurde, und die Inanspruchnahme Ungarns für die Begleichung von geschätzten 14 Prozent der habsburgseitig für Kriegsmaterial, sonstige Sachkosten und personelle Verluste aufgebrachten Finanzmittel, die durch den Krieg gegen die Osmanen bedingt waren, noch zusätzlich die Wut anstachelte). Vielmehr führte die innere Zerrisenheit Ungarns 1703 zu dem bereits oben erwähnten, vom Fürsten Ferenc II. Rákóczi angeführten Aufstand, der in einen achtjährigen Bürgerkrieg überging, der durch den am 1. Mai 1711 geschlossenen Frieden von Szatmár/Sathmar beendet wurde. Bis zu dessen Unterzeichnung war in den Osmanen- und in den folgenden Bürgerkiegen und Aufständen von 1683 bis 1711 – also in 29 Jahren – jeder sechste der drei Millionen auf ungarischem und siebenbürgischem Boden Lebenden zu Tode gekommen; praktisch eine Generation hatte ihr ganzes Leben nur in Kriegszeiten verbracht; die Geburten- und Überlebensraten von Kindern für den Aufbau der nachfolgenden Generation waren geschrumpft; kriegsbedingte Verletzungen und Krankheiten – so auch durch die wegen Mangelernährung und fehlende Sanitärstandards begünstigte Verbreitung der Pest – waren für weitere Einbußen an der zum Wiederaufbau notwendigen Arbeitskraft ursächlich; durch Binnenwanderung (Flucht in kriegsfreie Gebiete) sowie später durch Abwanderung angesichts der neuen Habsburger Steuern gingen weitere Bewohner verloren; zum Verlust an Menschen und ihrer Arbeitskraft kamen die Zerstörungen der Produktionsmittel und der Infrastruktur, die Verödung der jahrelang nicht bestellten Äcker und Felder sowie die Verwüstungen der Behausungen in Städten und Dörfern.
Diese Zeiten, die in der ungarischen Geschichtsschreibung schönfärbend als "Befreiungskriege" vom Joch der Osmanen, später von dem der Habsburger zusammengefaßt werden, bezeichnen großflächige Revolten und anarchistische Kriege jedes gegen jeden, in der die Adelsparteien auf dem Rücken der nicht-adligen Bevölkerung um tatsächliche oder vermeintliche Privilegien und geldwerte Pfründe gegeneinander kämpften und für persönliche Vorteile auch jederzeit die Fronten wechselten (wie es Rákóczi in vielen Aufrufen immer wieder vergeblich kritisierte, ohne daß sein Wunsch nach Einigkeit gehört wurde). Der ungarischen Beteiligung an der Vertreibung der Osmanen ab 1683 folgte ein 1697 wegen der von Habsburger Seite verfügten Weinsteuer im Tokajer Gebiet ausgebrochener, alsbald das ganze Land erfassender, mehrjähriger und desaströser Aufstand der Kleinadligen und Hajduckensoldaten, dann ab 1703 die maßgeblich mit Rákóczis Namen in Verbindung gebrachte Adelsrebellion (auch Kuruzzenkriege genannt), so daß alle drei militärischen Auseinandersetzungen und die ungarn-internen Konflikte das Land um ein Vielfaches stärker verwüsteten, als es die osmanische Besatzung und deren militärische Vertreibung vermocht hatten, obwohl in der überbrachten ungarischen Geschichtsschreibung allein den Osmanen die Schuld gegeben wird (vgl. hierzu die ausführliche Inhaltsvorschau, die der Einladung zum Vortrag von Prof. Dr. László MARJANUCZ "Ungarns Stellung im Habsburger Reich des 18. Jahrhunderts" vor der DUG am 13. September 2009 beigegeben wurde: -> Veranstaltungen -> Inhaltsangaben/ Berichte -> 2009 -> unter dem Datum vom 13.09.2009).
Hinzu kam und ebenso gewichtig war der von Marjanucz ebenfalls behandelte, den Bürgerkrieg beflügelnde religiöse Konflikt, der in der offiziellen ungarischen Geschichtsschreibung ebenso keine Rolle spielt, weil er dem Wunschbild eines ganz Ungarn und Siebenbürgen einenden Freiheitskampfes gegen die Habsburger widerspricht (zur religiösen Komponente, aber auch zur vorstehend behandelten Zerstrittenheit des eigensüchtigen Motiven nachjagenden Adels s. auch die Einführung in den Vortrag von Dr. Norbert Spannenberger "Migration in Ungarn - Siedlungspolitik des Wiener Hofes und ungarischer Magnaten im 18. Jahrhundert" vom 05.12.2005). Mit der Übernahme Ungarns nach der Vertreibung der Osmanen begann Habsburg unter dem Begriff "Einrichtungswerk", mit dem Neuaufbau von Infrastruktur, (Land-)Wirtschaft und Handel sowie mit der Neubesiedlung auch zu versuchen, das Land unter einem – dem katholischen – Glauben zu einen und die reformatorischen Glaubensausprägungen zurückzudrängen, wenn nicht zu beseitigen.
Besonders mußte sich dieses Bestreben als fatal in dem von Habsburg übernommenen Siebenbürgen erweisen, das sich von seiner Ausrichtung auf die Osmanen nun auf das Wiener Kaiserhaus orientieren mußte – oder sich doch lieber dem ungarischen Königreich anschließen wollte? Denn in Siebenbürgen kumulierte eine ethnisch-politisch-religiöse Gemengelage, wie sie in dieser Verwobenheit nirgendwo sonst zu beobachten war, wo Ungarn siedelten, und was auch erklärt, daß die Kämpfe gegen Wien immer wieder neu durch die "Siebenbürgische Frage" befeuert wurden. Die drei traditionellen nationes (oder privilegierten Stände) in Form des ungarischen Adels, der deutschen Ethnie (der Siebenbürger Sachsen) und der Szekler teilten sich nominell gleichberechtigt in die Herrschaft über Siebenbürgen, die durch einen von ihnen gewählten Fürsten ausgeübt wurde. Vier Konfessionen (die römisch-katholische, die evangelisch-lutherische, die reformiert-calvinistische und die unitarische) waren gleichberechtigt (wenn auch teilweise mehr der einen oder anderen Ethnie verbunden), ihnen war die freie Religionsausübung garantiert.
Dieses über die Jahrhunderte entwickelte und – in späterer Zeit schon wegen Verwerfungen in religiösen Fragen gerade noch – ausbalancierte Machtgefüge erlebte ungekannte Herausforderungen und Belastungen aus der osmanischen Oberhoheit, die Siebenbürgen aber eine innenpolitisch-kulturell-religiöse Autonomie beließ; dagegen verlangten die auf die Vertreibung der Osmanen folgenden tatsächlichen oder potentiellen "neuen Herren" (sprich: die Habsburger auf der einen Seite bzw. das ungarische Königreich, welches Siebenbürgen zur Vereinigung mit ihm lockte, auf der anderen Seite) eine Gleichschaltung mit ihren jeweiligen Interessen. Nicht einmal große Teile des ungarisch-siebenbürgischen Adels, also einer der drei nationes, wollten ihre im Fürstentum gewahrte Unabhängkeit für den Eintritt in das ungarische Königreich opfern und sahen "ihre Sache" bei den geographisch weiter entfernten Habsburgern besser aufgehoben. Ganz zu schweigen von den auf ihre traditionelle Unabhängigkeit pochenden Szeklern und erst recht den Siebenbürger Sachsen, die ihre Marginalisierung nach einem Anschluß an das ungarische Königreich fürchteten (und sich lieber mit den rumänischen Einwohnern in Siebenbürgen verbündeten, um mehr Druck auf das Wiener Herrscherhaus ausüben zu können, damit am Status Siebenbürgens nichts geändert würde) – zur Illustration der Bevölkerungszusammensetzung Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Siebenbürgen: Die zu keiner der privilegierten nationes gehörende rumänische Bevölkerung verfügte zumindest über die relative, wenn nicht wegen ihres großen Geburtenüberschusses bereits über die absolute Mehrheit; die ungarische natio mochte mit abnehmender Tendenz etwa 30 bis 40 Prozent stellen, wobei jedoch die einer eigenständigen natio angehörenden, aber als ungarischstämmig bezeichneten Szekler mit ihren 10 bis 12 Prozent trotz ihrer eigenen politischen Ziele zahlenmäßig einfach der ungarischen natio zugeschlagen wurden; die Szekler sollen allerdings von ihrer Zahl her immer etwas stärker gewesen sein als die natio der Siebenbürger Sachsen, die es auch auf etwa 10 bis 12 Prozent brachten und dafür die statistisch verläßlichsten Daten lieferten (nach Ambrus Miskolczy in: Béla Köpeczi [Hrsg.]: Kleine Geschichte Siebenbürgens, 1990).
Parallel zu den vorerwähnten innerungarischen Kämpfen verlief der kroatische "Große Befreiungskrieg", ein gegen die osmanische Besatzung gerichteter Krieg, der eine Puffer- oder Sicherheitszone zwischen Ungarn und Osmanen schuf, aber gleichzeitig auf eine internationale territoriale Anerkennung kroatischen Staatsgebietes abzielte und damit langfristig die Position des ungarischen Königs schwächen sollte, der seit 1091/1097 in Personalunion König von Kroatien war.
Diese Veränderungen und Umbrüche, auch die entfallende Bedrohung durch die Osmanen einerseits und die knappen finanziellen Ressourcen andererseits brachten es mit sich, daß das seit dem 16. Jahrhundert gegen die Osmanen errichtete System der Grenzverteidigung mit großer Geschwindigkeit zerfiel. War eine militärische Modernisierung durch den kriegerischen osmanischen Versuch, den Friedensvertrag von Karlowitz zu eigenen Gunsten zu revidieren, noch geboten ("Venezianisch-österreichischer Türkenkrieg" von 1714 bis 1718 mit der entscheidenden osmanischen Niederlage 1716 in der Schlacht von Peterwardein, der Rückeroberung von Temesvár [Temeschwar] 1717 und dem Friedensvertrag von Passerowitz 1718), so nutzten die Habsburger spätere Neuorganisation der "Militärgrenze" vor allem dazu, die von Eigeninteressen geleiteten Ethnien besser kontrollieren und deren Autonomiebestrebungen eindämmen zu können, z. B. durch die von 1761 bis 1770 erfolgte Einbeziehung Siebenbürgens in das Militärgrenzregime zur Kontrolle des rebellischen ungarischen Adels oder ähnliche derartige Maßnahmen auf dem Balkan, bis das Militärgrenzregime in den 1880er Jahren gänzlich beseitigt war. Diese Entwicklung der (späteren und neue Ziele verfolgenden, nämlich die innere Befriedung und den territorialen Zusammenhalt des Reiches sichernden) Militärgrenzregime muß hier wegen des thematisch eingegrenzten Zeitraums nicht näher untersucht werden.
Mit der Neuorganisation des gegen die Osmanen gerichteten bisherigen Grenzregimes, der ursprünglichen "Militärgrenze“ (in Wirklichkeit eines mehrere zig Kilometer breiten Landstreifens, der in seiner größten späteren Ausdehnung etwa 50.000 Quadratkilometer umfaßte, was als Vergleichsgröße etwa der Hälfte der Fläche des heutigen Ungarns entspräche), trugen die Habsburger dem Umstand Rechnung, daß sich mit der Rückeroberung der zuvor osmanisch beherrschten Gebiete diese raumtiefe Verteidigungsstrategie überlebt hatte; die herausgelösten Teilgebiete wurden zivil in andere Territorien eingegliedert. Damit stellte sich als neues Problem, wie man die im Landesinneren gelegenen, im 16. und 17. Jahrhundert gegen die Osmanen errichteten Festungen sowie privaten Burgen und Schlösser behandeln sollte. Sie hatten ihre bisherige Funktion verloren, andererseits erkannte man ihren strategischen Wert und investierte in einige von ihnen Reparaturen, um sie dann gegen innere Feinde und bei Bedarf auch gegen Überfälle äußerer Feinde nutzen zu könnten.
Doch nicht nur die militärischen Objekte bedeuteten Probleme: Die demobilisierten Soldaten mußten mit neuen Aufgaben versorgt oder finanziell (und das hieß in der damaligen geldwirtschaftlich kaum organisierten Zeit mit einer Übereignung von Ackerland) abgefunden werden. Ihnen blieb nur die Entscheidung, ob sie weiter als Soldaten im stehenden Heer kämpfen oder als einfache Bauern Steuern zahlen wollten. Weitere Folgen der Neuorganisation war die Umstellung der im 16. und 17. Jahrhundert bestehenden Kriegswirtschaft auf die Anforderungen in der Friedenszeit; nun wurden die Einnahmen des Landes nicht mehr für die Besoldung der ungarischen oder südslawischen Truppen ausgegeben, sondern für das stehenden Heer aufgewendet.
K.R.
Stand 31.03.2013
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11. APRIL 2013 (Berlin)
Habsburg und Siebenbürgen zwischen 1600 und 1605. Gescheiterte Bemühungen um die Integration Siebenbürgens in die frühneuzeitliche Habsburgermonarchie
VORTRAG von Dr. Meinolf ARENS (Historiker; Universität Wien; München)
EINIGE HINWEISE ZUM INHALT DES VORTRAGS UND SEINEN GESCHICHTLICHEN HINTERGRUND:
In seinem Vortrag wird sich der Referent mit der Entwicklung des Fürstentums Siebenbürgen und der des Habsburgerreiches seit der (ersten) Schlacht bei Mohács im Jahre 1526 befassen und dabei die Bemühungen Habsburgs darstellen, der nicht von den Osmanen besetzten Landesteile Ungarns sowie Siebenbürgens habhaft zu werden; diese Bemühungen werden bis nach der Vertreibung der Osmanen aus Südungarn und aus Siebenbürgen und nach dem Frieden von Karlowitz (1699) weitergehen. Denn während Ungarn als habsburgische Kriegsbeute und Kompensation für die Verluste in den Kämpfen gegen die Osmanen annektiert wurde, gelang es Siebenbürgen, seine Sonderstellung zu erhalten (zumindest durch Unterstellung des Landes unter einen von Wien ernannten Gubernator und damit durch Vermeidung einer Angliederung an Ungarn bis zum Verlust seiner 700 Jahre währenden Autonomie durch die Union mit Ungarn 1866). Der Vortrag wird die rechtlichen, tatsächlichen und personellen Handhaben Habsburgs darstellen, um sich militärisch festzusetzen und durch wechselnde Allianzen mit den innersiebenbürgischen Konfliktparteien und durch Unterstützung der den Habsburgern zuneigenden Adligen seine Ziele zu verfolgen. Diese Entwicklung kumulierte in den Jahren von 1600 bis 1605.
Das Vorgehen der Habsburger kollidierte mit der staatsrechtlichen Sonderrolle Siebenbürgens als eines ständisch organisierten Vasallenstaates des Osmanischen Reiches und der Fortgeltung der ständischen Privilegien. Das daraus abgeleitete siebenbürgische Selbstverständnis sollte alsbald in den großen ständischen Bewegungen des 17. Jahrhunderts Bedeutung erlangen, denn der Ausgangspunkt dieser Bewegungen lag auch in Siebenbürgen, und sie wurden so wirkmächtig, daß sie das Habsburgerreich zweitweise in seinen Grundfesten erschütterten (mit "Stand" sind hier allgemein die staatsrechtlich-konstitutionellen Bevölkerungsgruppen wie Adel, Bürger usw. gemeint, speziell in Siebenbürgen die drei ethnisch definierten Stände, die sog. drei nationes, von denen jeweils eine natio aus dem ungarischen Adel sowie aus der "sächsischen" und der szeklerischen Bevölkerungsgruppe bestand und auf Grund der ihnen als einzelner Gruppe verliehenen Sonderrechte zu Lasten der übrigen, nicht durch Geburt einer natio angehörenden Bevölkerung privilegiert war).
Tatsächlich war wohl keine andere Region im Europa der damaligen Zeit in einer solchen gleichzeitigen, nationalstaatlichen Ideen zuwiderlaufenden Gemengelage von Ethnien, Religionen, vielschichtigen Herrschaftssystemen sowie (auch Regionalgrenzen überschreitenden) politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen gefangen wie die der Siebenbürger, Ungarn und Habsburger – als da im einzelnen sind: das Verhältnis der ständischen nationes in Siebenbürgen zum Wiener Hof; die konfessionelle Spaltung durch die Reformation und der versuchte "roll-back" zur Wiedereinrichtung des katholischen Primats; die größtenteils wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückständigkeit unter dem Adelsdiktat und ihre Überwindung durch Kolonisation (mit der Folge einer sich multiethnisch auffächernden Gesellschaft) und ein vom Wiener Hof ausgehenden Modernisierungsoktroi; die meist übersehenen Verbindungslinien zu strukturell verwandten ostmitteleuropäischen Ständegesellschaften; die Herausforderungen, die es unter sicherheitspolitischen (militärischen) Erwägungen und auf Grund von Eingliederungen kleiner Territorien in größere Herrschaftsverbände und Reiche gab; und schließlich die sich innerhalb des ostmitteleuropäischen Raumes wechselseitig und mit nicht vorhersehbaren Ergebnissen beeinflussenden verschiedenen Kulturen. Schließlich wurde diese Gemengelage noch verschärft durch die Ansiedlungs- und Verbannungspolitik des Wiener Hofes, der sich der religiös unliebsamen, weil reformatorischen und der aufrührerischen Personen in Richtung Ungarn (und dort vor allem durch Einweisung in die Randregionen) entledigte.
In den jeweiligen national ausgerichteten Geschichtsschreibungen, mit und in denen jene Zeit zum höheren Ruhm der eigenen Nation vereinnahmt und oftmals verfälscht wurde, fand unter dem Diktat der Nationalstaatsidee eher eine mythische Verklärung denn eine historisch akkurate Bestandsaufnahme statt, geschweige, daß eine über den Tellerrand des eigenen Nationalstaats hinausgehende Auseinandersetzung mit den Auffassungen der übrigen Beteiligten versucht wurde. Entwicklungslinien und Handlungsstränge wurzelten und wurzeln allein in der eigenen Nation, sie und ihre Angehörigen sind die geschichtlich treibenden, nie eigenen Egoismen, sondern nur den diffusen Zielen der "Nation" untergeordeneten Kräfte, Nationsfremde werden nur im Konfliktfall zur Kenntnis genommen.
Der Vortrag wird es unternehmen, diese größeren Linien in ihren Zusammenhängen und Entwicklungen aufzuzeigen und das überkommene, meist sehr einseitige Bild der Beziehungen zwischen Habsburg und Siebenbürgen facettenreicher zu gestalten.
K.R.
Stand: 12.04.2013
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29. APRIL 2013 (Berlin) / 30. April 2013 (Leipzig)
Geiseln: Die nationalen Minderheiten in der Slowakei von 1939 bis 1945.
VORTRAG von PaedDr. habil. Martin PEKÁR, PhD (Historiker; Dozent am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophischen Faktultät an der Universität Pavla Jozefa Šafárika v Košiciach [Kaschau, Kassa]):
ZUM GESCHICHTLICHEN HINTERGRUND DES VORTRAGS:
Als Folge des Auseinanderbrechens der habsburgisch-ungarischen Doppelmonarchie und des Ersten Weltkrieges hatte sich die Slowakei 1918 mit den tschechischen Ländern Böhmen und Mähren zur Tschechoslowakei zusammengeschlossen. Dieses neue Staatsgebilde zu zerschlagen und unter deutschen Einfluß zu bringen war eines der außenpolitischen Ziele Hitlers, die er neben anderen mit dem Münchner Abkommen (30.09.1938) zu Lasten der Tschechoslowakei, insbesondere ihrer tschechischen Landesteile, verfolgte. Das Abkommen eröffnete dazu die Möglichkeit, allerdings mit der Einschränkung, daß Hitler seinen Einfluß auf einen neu zu bildenden slowakischen Staat behalten und im Hinblick auf seine langfristigen Ziele ausbauen wollte.
Auf Grundlage des Ersten Wiener Schiedsspruches (02.11.1938) gewann Ungarn die 1920 durch den Friedensvertrag von Trianon verlorenen süd-slowakischen (nach ungarischer Lesart: oberungarischen) Gebiete von der Tschechoslowakei zurück. Angesichts des zweifachen Drucks – einmal der Forderung des Deutschen Reiches auf Bildung eines separaten slowakischen Staates, im Weigerungsfalle mit der Drohung einer Aufteilung des slowakischen Gebietes zwischen Polen und Ungarn, zum anderen des Vorrückens tschechischer Truppenteile auf slowakisches Gebiet, was die Zerschlagung der Tschechoslowakei verhindern sollte – erklärte das slowakische Parlament am 14. März 1939 die auch von Ungarn anerkannte Unabhängigkeit des Landes als (nach späterer Zählung "Erste") Slowakische Republik. Am nämlichen Tag, als die Slowakei mit dem Deutschen Reich einen Schutzvertrag besiegelte – und das war ein Tag nach Abschluß der Arbeiten der Kommission zur Festlegung der neuen (ost-) slowakisch-ungarischen Grenze –, griff Ungarn am 23. März 1939 die östliche Slowakei an (in späteren Verhandlungen erhielt Ungarn am 2. April 1939 einen Landstreifen als Gewinn aus diesem sogenannten Kleinen Krieg [kis háború/malá vojna]).
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat der Referent den Inhalt seines Vortrags wie folgt skizziert: Der neue Staat Slowakei wird heute als ein Nebenprodukt von Hitlers Ostpolitik bezeichnet; seine Souveränität war durch den Schutzvertrag mit Deutschland beschränkt. In der Slowakei entstand ein autoritäres Regime mit faschistischen Merkmalen. Die auf diesem Gebiet auch schon bis 1939 problematischen interethnischen Beziehungen traten nun stärker in den Vordergrund, was meist zur Verschlechterung der Situation führte. Alle nationalen Minderheiten wurden Geiseln – jetzt nicht mehr nur (wie in der Zwischenkriegszeit) Geiseln der internationalen Machtpolitik (zuletzt beim Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938), sondern auch des neuen Regimes, zu dessen Prioritäten unter anderen eine Stärkung des slowakischen Charakters des jungen Staates gehörte.
Der Vortrag wird einen kurzen Überblick der Gesetzgebung und der Minderheitenpolitik bieten. Die größte Aufmerksamkeit wird aber den wichtigsten nationalen Minderheiten gewidmet – denen der Deutschen, Ungarn und Rus(s)innen (Ruthenen). Vor allem die Stellung der Ungarn und Ruthenen war stark von langfristig schlechten bilateralen slowakisch-ungarischen Beziehungen geprägt und führte zum manifesten Mißtrauen und zu weiteren Mißverständnissen, die bis heute überlebt haben.
K.R.
Stand: 14.04.2013
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23. MAI 2013 (Berlin)
Die Geschichte der Deutschen in Ungarn
BUCHVORSTELLUNG von und mit Prof. Dr. Gerhard SEEWANN (Historiker, Leiter des vormals deutschen Stiftungslehrstuhls, jetzt ungarischen Lehrstuhls für deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Europa, Universität Pécs/Fünfkirchen)
VORSCHAU AUF DIE BUCHVORSTELLUNG UND ANGABEN ZUM INHALT DES ZWEIBÄNDIGEN WERKES
Das zweibändige Handbuch über die deutsche Besiedlung des Königreiches Ungarn und zur Geschichte der Deutschen in Ungarn
Band 1: Vom Frühmittelalter bis 1860 (540 Seiten), Band 2: 1860 bis 2006 (654 Seiten)
wird vom Autor und vom Moderator vorgestellt, die beide anschließend ein Gespräch über ausgewählte historische Kapitel führen. Dem Moderator ist zusätzlich für die Bereitstellung des projizierten Bild- und Kartenmaterials zu danken.
MODERATION: Dr. Harald ROTH, Deutsches Kulturforum östliches Europa in Potsdam, dessen kommissarischer Leiter; Wissenschaftlicher Referent im Fachreferat Geschichte, Länderreferat Südosteuropa
Die für das Buch gewählte Darstellung deckt die Zeit vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert ab, wobei der Schwerpunkt auf der neuzeitlichen Besiedlung, also auf der Zeit nach der Eingliederung des historischen Ungarns in das Reich der Habsburger ab dem Ende des 17. Jahrhunderts liegt. Die vorausgegangenen Kriege vor allem der Heiligen Liga gegen die osmanische Besatzung und zu deren Beendigung, ebenso die kurz nach 1700 folgenden antihabsburgischen Erhebungen vor allem des ungarischen und des siebenbürgisch-ungarischen Adels im Kampf um die Erhaltung seiner Privilegien und die mit den Adelskämpfen einhergehenden Bürgerkriege der einzelnen Adelsfraktionen gegeneinander, verstärkt durch Hungersnöte und grassierende Seuchen, aber auch durch Binnenwanderungen als Flucht vor den unmittelbaren Auswirkungen der Kriege führten zu großflächigen Entvölkerungen und zur Verarmung des Landes. Die Ansiedlung deutscher Bauern und Handwerker versprach den neuen habsburgischen Grundherren, aber auch den alteingesessenen Adelsfamilien die beste und schnellste Rendite bei dem von ihnen zu finanzierenden Wiederaufbau Ungarns, damit dessen Bewirtschaftung über Steuern und Naturalabgaben die geleerten Kassen nachhaltig füllten (wobei die neu angesiedelten Kolonisten zwar zeitlich begrenzte, vor allem steuerliche Privilegien auf ihre erwirtschafteten Erträgnisse erhielten, aber selbst das Geld mitbringen mußten, um ihre Ansiedlung zu finanzieren: Letztlich waren es die Kolonisten, die mit ihren Ersparnissen und dann mit ihrer Hände Arbeit den Wiederaufbau bewerkstelligten). Daß dazu vor allem "deutsche" (und das hieß deutschsprachige) Siedler angeworben wurden, hatte mehrere Gründe – einmal die guten Erfahrungen, die der ungarische König mit der ersten Kolonisation im 12./13. Jahrhundert gemacht hatte, dann das speziell für den Wiederaufbau benötigte know-how, wonach die Kolonisten gezielt ausgesucht wurden, ferner das von ihnen mitgebrachte Geld und schließlich auch die geringe Gefahr, daß sie sich als Fremde in die Angelegenheiten der Adelskaste oder Habsburgs einmischen würden.
Demzufolge reichte die Herkunft weit über die "Schwaben" und "Sachsen" hinaus. Denn die (Donau-)Schwaben trugen ihren Namen weniger nach ihrer geographischen Herkunft, sondern weil sie sich im "schwäbischen Reichskreis" [der späteren "Baierischen Provinz Schwaben"] mit seinem Hauptort, dem "schwäbischen" Ulm, einschifften und auf ihren komfortlosen, baulich primitiven Ein-Weg-Wasserfahrzeugen donauabwärts trieben ("Ulmer Schachteln" waren übrigens nicht nur in der namengebenden Stadt im Gebrauch, sondern wurden den Auswanderern oder den die Kolonistengruppen organisierenden Agenten [im damaligen Sprachgebrauch den "Gräven" oder ungarisch den "gerébek"] an jedem Uferlandeplatz verkauft und unter der Bezeichnung "Zillen" im ganzen deutschsprachigen Donauraum, vor allem auch in Wien und Umgebung, als Stückgutkähne täglich genutzt). Und auch die "Sachsen" waren nur in geringem Maße ethnische Sachsen oder wenigstens Norddeutsche, sondern wurden so nach der Rechtsquelle [Sachsenspiegel, sächsische Stadtrechte, sächsisches Bergrecht] genannt, die sie sich als rechtliche Grundlage für ihre Ansiedlung erwählten und unter dem sie fortan lebten und arbeiteten – es war eines der mit dem Selbstverwaltungsrecht verbundenen Ansiedlungsprivilegien, das die jeweilige Kolonistengruppe als ganze, nicht der einzelne erhielt, und das Privileg war dermaßen dauerhaft, daß spätere Ansiedler, die der so gebildeten Gemeinde zugehören wollten, kein eigenes Wahlrecht mehr hatten, sondern sich dem dort geltenden Recht unterordnen mußten – vielleicht war es diese Privilegierung dieses Rechtssystems neben anderen "deutschen" Rechtssystemen, die nach einmal erfolgter Wahl dann entpersonalisiert mit dem Siedlungsort, nicht mit den dort lebenden Personen welcher Herkunft auch immer fortwirkte und geschützt vor anderen Einflüssen zum Überleben des "Deutschtums", besser vielleicht "deutschen Siedlungstums" im Königreich Ungarn und im Fürstentum Siebenbürgen entscheidend beitrug).
Als "Donauschwaben" im allgemeinen Sprachgebrauch galten ebenso die im Rheintal und den Nebentälern siedelnden Hessen und Franken bis zu den Moselfranken in Luxemburg und im Gebiet von Reims oder im Süden bis zu den Allemannen oder im Norden noch über die Westfalen hinaus bis hin – soweit diese nicht in Wallonen oder Flandern unterschieden wurden – zu den französischsprachigen Minderheiten im niederländischen Umfeld oder zu den vielen Aussiedlern im Lütticher Raum und zu (anderen) Niederländischsprachigen. Während es bei den letztgenannten Gruppen um den Zusammenhang zwischen Sprach- und Religionszugehörigkeit ging, die primär den Auswanderungsgrund abgab, kamen die Kolonisten in Siebenbürgen "de la Meuse, de la Moselle, du Rhin, de Flandres, de Hollande" (womit diese Selbstbeschreibung der vielfältigen siebenbürgischen Herkunft der – anläßlich der 2007 erfolgten Ernennung von Hermannstadt/Sibiu/Nagyszeben zur europäischen Kulturhauptstadt auch von staatlichen Luxemburger Stellen gepflegten – Legende, die "deutschen" Kolonisten seien vor allem aus Luxemburg gekommen, widerspricht, denn schon die Gründungssiedlungwelle 1191 brachte Kolonisten aus dem ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation), und es war ihre so bezeichnete geographische Herkunft, keine – damals nicht existente – nationale Zugehörigkeit. Und sie wurden später auch deshalb "Schwaben" genannt, weil sie sich (ebenso wie die "Sachsen") als Privileg ihrer Ansiedlung den "Schwabenspiegel", eines der großen Rechtsbücher jener Zeit, als fortan für sie geltendes Recht wählten, dessen im Vergleich zu den norddeutschen Rechtsbüchern später erfolgte Kodifikation schon viele "modernere" Auffassungen aus dem im Mittelalter im ganzen westlichen und zentralen Europa wiederbelebten effizienteren römischen Recht enthielt; damit wurde nicht zuletzt das Rechtsleben im Königreich Ungarn über lange Zeit beeinflußt.
Und was zu den "Schwaben" und ihrer Herkunft gesagt wurde, gilt ebenso für die "Sachsen". Sie hießen alle "Sachsen" (in der damals üblichen lateinischen Kanzleisprache "saxones"), wenn sie auf Grund der königlichen Privilegien auf königlichem Boden mit den Garantien persönlicher Freiheit und gruppenzugehöriger Selbstverwaltung angesiedelt wurden (sogenannte "sächsische" Freiheit nach dem zugrundeliegenden Rechtssystem). Ebenso hießen alle Zuwanderer "Sachsen", aus welcher Region sie auch tatsächlich kamen, wenn sie nach sächsischem Bergrecht unter Tage arbeiteten (nicht nur in Siebenbürgen, sondern auch in Serbien, in Bosnien).
Im Gegensatz zu den geographisch entfernter lebenden Auswanderungswilligen wußten die Einwohner des habsburgischen Reiches sehr viel besser, daß die "Werber" (Lokatoren) mit ihren Versprechungen ein viel zu rosiges Bild von der neuen Heimat zeichneten, und sie ließen sich lieber ins Zarenreich locken als in das von Bodenextremen gekennzeichnete, klimatisch äußerst ungesunde Ungarnland – Sümpfe, Hartgrasflächen und das jeder Ackerkrume entbehrende Schwemmland der mäandernden großen Tiefebenenflüsse einerseits und andererseits die trockenen, ausgedörrten und steinigen Hochflächen zum Beispiel im Banat. So kam aus den habsburgischen Ländern fast nur, wer zur Strafe der Landverbannung verurteilt worden war und nach Ungarn zwangsdeportiert wurde oder wer als ein vom katholischen Glauben Abgefallener (Konvertit, Proselyt), damals waren das die Anhänger jeder protestantischen/reformierten Kirche, der Ausweisung unterlag. In diesem Sinne als Mittel der katholischen Gegenreformation einerseits, als Modernisierungs- und Investitionshandhabe andererseits diente das von den Habsburgern ersonnene sogenannte Einrichtungswerk (eine Art umfassende Wiederaufbauplanung vor allem in verwaltungsmäßiger, finanzieller, steuerlicher, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht - vgl. zum Einrichtungswerk den auf dem gleichnamigen Buch beruhenden Vortrag unseres Vizepräsidenten Dr. Norbert Spannenberger am 23. April 2013 an der Universität Freiburg i. Br.), das zwar in Gang gebracht, aber nie in vollem Umfang umgesetzt werden konnte.
Und dennoch: wenn 1910 im Königreich Ungarn etwa jeder Zehnte Deutsch als Muttersprache angab, was etwa zwei Millionen Menschen gleichkam, so zeigen diese Zahlen den Erfolg der Siedlungspolitik, aber auch die Zähigkeit und den Überlebenswillen der Kolonisten, wenn sie erst einmal das erste bis dritte entbehrungsreiche Jahr überlebt hatten. Das Verhältnis der Ungarn zu den Deutschen war tendenziell ausgeglichen, meist sogar besser als ihr Verhältnis zu anderen ansässigen Minderheiten. Alle fremden Ethnien unterlagen ab Ende des 19. Jahrhunderts einem starken Magyarisierungsdruck, als offensichtlich wurde, daß einzelne nicht-ungarische Ethnien in großen Teilen des Königreiches gegenüber dem ungarischen Ethnikum die relative Mehrheit, ja mancherorts die Gesamtheit der nicht-ungarischen Ethnien sogar die absolute Mehrheit stellten, so daß man ihren Autonomiebestrebungen nur begegnen konnte, wenn man ihnen die Grundlage für eine Autonomieforderung entzog, indem man sie zu Ungarn machte.
Prof. Dr. Seewann stellt in seiner Publikation die verschiedenen Siedlungsvorgänge und die sie tragenden Siedlergruppen im Ungarn innerhalb seiner jeweiligen Grenzen ab dem Mittelalter (beginnend mit König Stephan I.) und über den Schwerpunkt im 18. Jahrhundert bis zum Jahr 2006 dar, ferner die Nationalbewegungen und Nationalitätenpolitiken des 19. Jahrhunderts, die politischen Bewegungen und die Rolle der Deutschen in dem durch das Friedensdiktat von Trianon (4. Juni 1920) geographisch deutlich verkleinerten Ungarn, dann die Vertreibung der Deutschen außer Landes, die Situation der Nationalitäten in der sozialistischen Zeit und schließlich die Entwicklung nach der politischen Wende von 1989 bis in die Gegenwart.
Dabei unternimmt es der Autor, von den einzelnen Gruppen abstrahierend eine "deutsche Gruppengeschichte" zu entwickeln und diese in Beziehung sowohl zum ungarischen Volk als auch zu anderen sich sprachlich, ethnisch oder religiös unterscheidenden Minderheiten zu setzen. Für die Deutschen mündete der Geschichtsverlauf in die – vom einzelnen Gruppenmitglied abgelehnte, hingenommene oder begrüßte – Vereinnahmung durch das Großdeutsche Reich und endete im Trauma ihrer Vertreibung aus einem Land, das sie über Jahrhunderte unerschütterlich als ihre Heimat angesehen hatten und dem die meisten als Heimat auch nach der erzwungenen Ausreise verbunden blieben. Mit dieser in mehrfachem Sinne "Grenzüberschreitung" entgrenzte sich ihre "Gruppengeschichte" und wurde zu einem Mosaik-, wenn nicht Merkstein in der europäischen Geschichte, gleichsam zu deren Spiegel und symptomatisch für die auseinander- und zusammenlaufenden Entwicklungsstränge einer längst noch nicht abgeschlossenen Geschichte Europas. Für die, die damals gehen mußten, für die, die geblieben sind, wird die, wird ihre Geschichte sowieso nie zu Ende sein.
In dem mit Dr. Harald ROTH zu führenden Gespräch wird Prof. Dr. Gerhard SEEWANN einen Überblick über die Inhalte seines Buches geben und den Zuhörern für Fragen zur Verfügung stehen.
Zur Person des Autors: Nach dem Studium der Geschichte und Philosophie in Graz war Seewann zunächst im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein sowie an der Universität München tätig, bevor er 1980 die Leitung der Bibliothek des Südost-Instituts in München übernahm. Hier betreute er zahlreiche Projekte zur Minderheitenforschung, wobei sein eigener Schwerpunkt auf Ungarn lag. Anfang 2007 folgte Seewann einem Ruf auf die von der deutschen Bundesregierung gegen Ende 2006 an der Universität Pécs/Fünfkirchen eingerichtete Stiftungsprofessur "Geschichte der Deutschen im südöstlichen Mitteleuropa"; er hat den am 13. März 2008 feierlich inaugurierten Lehrstuhl auch nach Übernahme dessen weiterer Finanzierung durch den ungarischen Staat inne, nunmehr als ungarischer Professor. Am 7. Dezember 2012 erhielt Seewann den Lenau-Preis 2012 für die "unvergänglichen Verdienste", die er sich mit seiner Arbeit – einer erstmaligen Gesamtdarstellung der Geschichte der Deutschen in Ungarn – um die deutsche Volksgruppe erworben hat. Das zur Auszeichnung veranlassende, 2012 im Herder-Verlag auf deutsch erschienene zweibändige Werk wird derzeit für eine Herausgabe auf ungarisch vorbereitet.
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27./28. Mai 2013 (Berlin/Leipzig)
Die 2. ungarische Armee (Második Magyar Hadsereg) im Rußlandfeldzug 1942-1943
Vortrag von Prof. Dr. Dr. (habil) Sándor SZAKÁLY, DSc (Prorektor für Wissenschaft an der Nationalen Universität für den öffentlichen Dienst, Budapest)
EINFÜHRUNG IN DAS THEMA
Der desaströse Untergang der sog. Don-Armee gegen Ende 1943 ist eines der bis heute siebzig Jahre nachwirkenden Kriegstraumata in Ungarn. Die Vernichtung der 2. Armee am Don in der am 12. Januar 1943 gestarteten Großoffensive der Roten Armee sowie die Auflösung der überlebenden Reste der 2. Armee und der Versuch ihrer Heimholung ab 22. Januar 1943 lief parallel zum Untergang der 6. deutschen Armee bei Stalingrad. Die Bilanz waren 100.000 Tote, 35.000 Verwundete und 60.000 Gefangene der auf ungarischer Seite insgesamt eingesetzten Kräfte (200.000 Soldaten und 50.000 Zwangsarbeiter).
Während der sowjetischen Besatzungszeit Ungarns verschwiegen, konnte des "ungarischen Stalingrads" oder der "Tragödie am Don-Bogen" erstmals nach dem Systemwechsel gedacht werden – das heißt erstmals offiziell, obwohl es kaum eine ungarische Familie gab, die nicht mindestens ein Familienmitglied in jenen Tagen verloren hatte und sich in privater Trauer vereint mit vielen Millionen Ungarn wußte. Anläßlich des 60. Jahrestages der Schlachten wurden die damaligen Ereignisse auch erstmals erforscht und die Zahl der Verluste geringfügig nach oben auf 200.000 Personen revidiert, die Zahl der eingesetzten Kräfte um etwa 50.000 Mann erhöht und auf etwa 300.000 berechnet.
In diesem Jahr, da sich die Ereignisse zum 70. Mal jähren, wurde der "schwärzeste Tag in der Geschichte der ungarischen Armee" offiziell kaum zur Kenntnis genommen (abgesehen von einigen Veteranenverbänden). Wahrscheinlich hätte eine weitere Aufarbeitung der damaligen politischen Vorgänge, des Verheizens Zigtausender junger Ungarn (wobei man nur darüber streiten könnte, ob ihre hastig-schlechte Grundausbildung noch von der Armseligkeit ihrer Ausrüstung übertroffen wurde, oder ob es umgekehrt war), der anschließenden Vertuschungsversuche sowie des Leugnens von Verantwortlichkeiten nicht daran vorbeigehen können, daß all das mit dem Reichsverweser Horthy in Zusammenhang stand, jener ambivalenten historischen Führungsfigur, die in Ungarn als Person, zumindest aber mit ihrem Namen für die Epoche vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges stand und steht und die derzeit staatlicherseits als Inbegriff einer den Ungarn mit Stolz erfüllenden Vergangenheit stilisiert wird.
Die DUG möchte die Grundlage für eine eigene Meinungsbildung mit einer Aufarbeitung des Einsatzes der 2. ungarischen Armee im Rahmen des nationalsozialistischen Angriffes auf die Sowjetunion bieten und freut sich, einen der führenden Militärhistoriker Ungarns (und das DUG-Kuratoriumsmitglied) Prof. Dr. Dr. (habil.) Sándor SZAKÁLY, DSc dazu einladen zu können.
Zur Person des Referenten: Prof. Dr. SZAKÁLY ist seit Februar 2013 Prorektor für Wissenschaft an der Nationalen Universität für den öffentlichen Dienst und seit 2012 Leiter der Themengruppe "Horty-Ära" im Institut für Geschichtswissenschaften des Philologischen Forschungszentrums der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; er war bis 2013 institutsleitender Universitätsprofessor an der Gáspár-Károli-Reformierten Universität (Budapest) und daselbst Gründer und Leiter der Doktorschule. Von 1980 bis 1992 (zuletzt als Abteilungsleiter für neueste und zeitgenössische Geschichte) und wieder von 1997 bis 2000 (davon die letzten beiden Jahre als Generaldirektor) war er im Institut und Museum für Militärgeschichte in Budapest tätig; von 1992 bis 1997 wurde er als Stellvertr. Delegationschef zum Militärgeschichtlichen Institut und Museum in Wien entsandt. Seit 1991 arbeitet er als Mitglied, zum Teil auch als Leiter von Redaktionsausschüssen verschiedener wissenschaftlicher Zeitschriften und Periodika, darunter seit 2012 als Mitglied im Redaktionsausschuß der Történelmi Szemle (Historischen Rundschau) und der Honvédségi Szemle (Rundschau der Verteidigungskräfte). 2001 wurde er zum Direktor für Kultur, danach bis 2004 zum Vizepräsidenten des DUNA TV berufen. Er ist Träger mehrerer Ehrungen und Auszeichnungen. Seit 2007 ist er Kuratoriumsmitglied der Berliner DUG.
MODERATION (nur) in BERLIN: Prof. Dr. Rolf-Dieter MÜLLER, Leitender Wissenschaftlicher Direktor, Leiter des Forschungsbereichs "Deutsche Militärgeschichte vor 1945" am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Potsdam). Prof. Dr. Müller hat neben einer Vielzahl von Publikationen zum und über den Zweiten Weltkrieg 2007 auch die für das Vortragsthema einschlägige umfangreiche Untersuchung "An der Seite der Wehrmacht. Hitlers ausländische Helfer beim 'Kreuzzug gegen den Bolschewismus' 1941-1945" veröffentlicht; das Buch erschien zusätzlich 2009 in einer rumänischen sowie 2010 in einer polnischen und in einer estnischen Ausgabe.
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02. Oktober 2013 (Debrecen)
FESTVORTRAG
auf dem Empfang anläßlich des deutschen Nationalfeiertages (3. Oktober),
ausgerichtet in einer gemeinsamen Veranstaltung von Deutsch-Ungarischer Gesellschaft e. V. (DUG), Sitz Berlin, und Deutschem Kulturforum, Sitz Debrecen
am 2. Oktober 2013 im Professorenclub der Universität Debrecen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Michael QUANTE (Philosophisches Seminar an der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster), Vizepräsident der DUG, hielt seinen Vortrag auf deutsch. Seine Ausführungen sind auf Grundlage des Manuskripts nachstehend abgedruckt (es gilt dennoch das gesprochene Wort). Die Zuhörer erhielten eine von Ferenc SZIJJ besorgte schriftliche ungarische Übersetzung, die am Ende des hier folgenden deutschen Textes als pdf-Datei heruntergeladen werden kann.
Michael QUANTE
Welches Maß, wessen Werte?
Gesellschaftliche Herausforderungen des Fortschritts in den Lebenswissenschaften
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich sehr über die Einladung, anläßlich des deutschen Nationalfeiertags bei Ihnen einen Vortrag halten zu dürfen. Ich bin von meiner Ausbildung her Philosoph mit einem Schwerpunkt in der biomedizinischen Ethik und arbeite überdies seit vielen Jahren mit der Universität Debrecen im interdisziplinären Bereich der Lebenswissenschaften zusammen. Deshalb lag es nahe, für den heutigen Anlaß ein Thema zu wählen, das einerseits über den engeren Fragenkreis meiner Disziplin hinaus auf ein allgemeineres Interesse stoßen kann, darüber hinaus eine Deutschland und Ungarn verbindende Dimension aufweist und drittens auch mit meinen eigenen Aktivitäten im Dialog unserer beiden Länder zu tun hat.
Der Titel meines Vortrags "Welches Maß, wessen Werte?" spielt nicht nur auf ein berühmtes Buch an, das der US-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre im Jahre 1988 unter dem Titel Whose Justice? Which Rationality? veröffentlicht hat. Er verweist damit zugleich auf eines der zentralen Probleme, die im Hintergrund meiner heutigen Überlegungen zu den Lebenswissenschaften stehen. Denn MacIntyre geht in seinem Buch der Frage nach, wie wir in modernen Gesellschaften mit der Tatsache der Pluralität von Welt- und Wertvorstellungen umgehen sollen, wenn diese sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Außerdem fragt er danach, ob wir bei unseren Überlegungen möglicherweise davon ausgehen müssen, daß sich unsere Vorstellungen von Vernunft und, damit verbunden, rationalem Begründen ebenfalls signifikant unterscheiden.
Anders als MacIntyre, der seine Fragen mit Blick auf gesellschaftliche Pluralität verschiedener sozialer Gruppen stellt, möchte ich unseren Blick heute abend auf ein besonderes, wenngleich auch sehr umfassendes Themenfeld lenken, in dem sich der Pluralismus auf eine etwas andere Weise Geltung verschafft: Ich meine die Lebenswissenschaften. Der Fortschritt, den die Wissenschaften in diesem Bereich machen, bringt zum einen neue Erkenntnisse mit sich, die für sich genommen bereits zahlreiche normative Fragen aufwerfen: Denken Sie nur an den Zuwachs des Wissens im Bereich der Humangenetik oder über die Funktionsweise unseres Gehirns. Zum anderen ergeben sich durch diesen Fortschritt neue Handlungsoptionen, die ihrerseits wieder zahlreiche normative Fragen aufwerfen. Es reicht sicherlich, wenn ich hierzu an die vielen drängenden Fragen im Bereich der Fortpflanzungsmedizin, der Transplantationsmedizin oder auch im Kontext des Lebensendes erinnere.
Drittens ruft der Fortschritt in diesen Bereichen auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen hervor, welche z. B. die Altersstruktur unserer Gesellschaft, die durchschnittliche Lebensdauer von Menschen und damit insgesamt die demographische Struktur unserer Gesellschaften verändern. Es liegt auf der Hand, daß diese Entwicklungen einen erheblichen Druck auf die sozialen Sicherungssysteme wie Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung ausüben.
Wenn ich im folgenden von normativen Fragen spreche, dann beziehe ich mich damit auf ethische Fragen nach dem Richtigen oder Guten. Die Frage nach dem rechtlich Erlaubten oder Unerlaubten werde ich dagegen nicht behandeln. Diese Beschränkung ergibt sich unmittelbar aus meiner Fachkompetenz, die sich eben auf die Ethik beschränkt. Zugleich ist damit gesagt, daß ich in meinem Vortrag keine gesellschafts- oder sozialwissenschaftliche Analysen der angedeuteten Prozesse anstellen werde. Und ich werde auch keine Antwort auf die letztlich nur interdisziplinär zu klärende und politisch zu beantwortende Frage nach gesellschaftlichen Lösungsmodellen geben.
Das Ziel, welches ich mir für heute abend gesteckt habe, ist wesentlich bescheidener: Ich werde versuchen, einige grundlegende normative Fragen aufzuwerfen, einige sehr basale Quellen für normative Spannungen zu identifizieren und aufzuzeigen, welche grundsätzlichen Entscheidungen hier zu treffen sind. Dabei werde ich mich bemühen zu zeigen, daß der Philosophie in diesem Kontext eine wichtige und unverzichtbare Funktion zukommt. Und ich werde dafür werben, daß diese Fragen letztlich nur durch interdisziplinäre Forschung und den intensiven Dialog zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik normativ angemessen beantwortet werden können.
Viele der Fragen, die sich in diesen Kontexten ergeben, sind in einer globalisierten Welt von allgemeiner Bedeutung. Ich werde mich aber, zum einen auf Grund meiner Kompetenzen, zum anderen auch auf Grund des heutigen Anlasses, auf die europäische Ebene beziehen. Dies wird entweder indirekt geschehen, weil ich in meinen Überlegungen die deutschen Verhältnisse und Diskussionen zugrunde lege, so daß Sie die Unterschiede zu den Verhältnisse in Ungarn erkennen werden. Oder ich werde direkt auf Probleme hinweisen, die wir in einem zusammenwachsenden Europa nur gemeinsam regeln können. Dies gilt zumindest dann, wenn wir Europa nicht nur als Freihandelszone und als freizügigen Arbeitsmarkt begreifen, sondern auch das Projekt verfolgen, eine normativ-politische Identität von Europa auszubilden.
Meine Grundeinstellung ist dabei nicht, daß ein Land das Maß vorgeben und den anderen seine Werte überstülpen sollte. Vielmehr müssen wir voneinander lernen, die Pluralität erkennen und die Differenzen verstehen, die sich hier auftun. Viele von ihnen haben mit historischen Erfahrungen und den Wechselfällen der europäischen Geschichte zu tun, die unsere Nationen und Kulturen geprägt haben. Manche sind sehr tief verankert und können vermutlich nur in ein plurales Miteinander integriert werden. Andere sind möglicherweise veränderbar, so daß sich die Chance ergibt, nach den besten Modellen zu suchen und von unseren wechselseitigen Stärken zu profitieren.
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Bevor ich anhand einiger konkreter Beispiele zeigen kann, welche normativen Probleme ich ansprechen möchte und welche Fragen, die unsere Gesellschaften in den nächsten Jahren werden lösen müssen, ich im Sinn habe, muß ich noch kurz erläutern, was ich unter "Lebenswissenschaften" und unter "normativen" bzw. "ethischen" Überlegungen verstehe.
(i) Den Begriff der Lebenswissenschaften verwende ich in einem weiten Sinne, auch wenn ich mich im folgenden nur auf das menschliche Leben beziehe. Mit "Leben" ist nicht nur das erfaßt, was Gegenstand der Biologie oder der Medizin ist, sondern auch das soziale oder kulturelle Leben, welches wir z. B. in unseren sozialen Institutionen, von der Familie bis zum Rentensystem, organisieren. Auch den Begriff der "Wissenschaft" möchte ich in einem doppelten Sinne weit auslegen: Zum einen schließe ich hier nicht nur, wie der angelsächsische Begriffsgebrauch "sciences" dies tut, die Naturwissenschaften mit ein, sondern zähle auch die Gesellschafts- und die Normwissenschaften genauso hinzu wie etwa die historischen Disziplinen oder die Philologien. Und zum anderen möchte ich "Wissenschaft" auch im Kontext der Lebenswissenschaften nicht auf den Aspekt der Anwendung unseres Wissens (etwa durch Technologien oder im Arrangement sozialer Institutionen) beschränken. Schon die Wege der Erforschung, man denke etwa an Humanexperimente, und allein das erlangte Wissen, denken Sie an die diagnostischen Möglichkeiten humangenetischer Krankheitsdispositionen, werfen ethische Fragen auf.
(ii) Wenn ich heute von "normativ" oder "ethisch" spreche, so sind damit Geltungsansprüche und Begründungen gemeint, die auf das ethisch Gute oder ethisch Richtige abzielen. Ich fasse also sowohl das, was Philosophen Werte (wie das Gute, das Nützliche, Glück oder Wohlergehen) als auch das, was Philosophen Normen nennen, die das regeln, was man tun sollte, tun darf oder unterlassen muß, darunter.
Für unsere Zwecke reicht es aus, diesen Sinn von „normativ“ abzugrenzen von bloßer Klugheit, wie sie etwa in dem Satz zum Ausdruck kommt: Wer bei diesem Wetter draußen nicht naß werden möchte, sollte einen Regenschirm benutzen! Oder auch: Wer pünktlich zur Fußballübertragung im Fernsehen daheim sein möchte, sollte nicht mit dem Auto in die Stadt fahren!
Außerdem geht es nicht um die Dinge, die von Gesetz wegen verboten oder gefordert sind, die wir also mit den Mitteln des Rechts geregelt haben. Es gibt zahlreiche Dinge, die ethisch bewertet werden, ohne daß wir sie rechtlich regeln. So tadeln wir eventuell einen Freund, weil er sich gegenüber einem Arbeitskollegen nicht ganz fair verhalten hat, obwohl dies rechtlich durchaus in Ordnung gewesen ist. Und viele rechtliche Regelungen, die uns vorschreiben, wie wir uns zu verhalten haben, gehen nicht auf ethische Normen oder Werte zurück. Wenn Sie sich an die Straßenverkehrsordnung halten, um kein Bußgeld zu erhalten, unterlassen Sie Handlungen, die rechtlich verboten sind. Aber daraus folgt noch nicht, daß diese Handlungen für sich betrachtet auch ethisch falsch wären.
Es ist eine philosophisch überaus spannende, aber leider auch sehr komplexe Frage, wie sich das rechtlich und das ethisch Normative zueinander verhalten. Ihr kann ich heute abend jedoch genauso wenig nachgehen wie der ebenso spannenden Frage, ob sich das ethische Sollen (oder Gute) auf den Egoismus im Sinne aufgeklärter Eigeninteressen reduzieren läßt.
Das bloße Klugheitssollen oder das rechtlich Gebotene sind also in meiner Redeweise von "ethisch" oder "normativ" nicht gemeint. In dieser Hinsicht ist mein Begriffsgebrauch eingeschränkt. In einer anderen Hinsicht soll er dagegen weit aufgefaßt werden: Ich lasse alle Ansprüche und Begründungen als normativ oder ethisch zu, die sich im allgemeinen Sinne als Argumentationen auffassen lassen.
Dies bedeutet zum einen, daß die unterschiedlichen philosophischen Konzeptionen von Ethik zugelassen werden. Konkret heißt dies, daß Begründung, die auf die Nutzensteigerung für die von einer Handlung oder Regelung betroffenen Menschen abzielt, genauso zugelassen wird, wie eine Begründung, die von der Vorstellung moralischer Pflichten ausgeht, denen unsere Handlungen und Regelungen genügen müssen (wie dies paradigmatisch z. B. in den 10 Geboten des Alten Testaments geschieht).
Zum anderen möchte ich mein begriffliches Gesamtnetz liberal auslegen und die gesellschaftliche Pluralität einfangen. Deshalb werde ich auch solche Begründungen und Ansprüche als ethische anerkennen, die sich implizit oder explizit auf religiöse Bilder, Vorstellungen oder Prämissen stützen.
Die schon genannte Bedingung, daß man die Bereitschaft dazu haben muß, seine eigenen Ansprüche oder Argumente so zu begründen, daß sie nachvollziehbar werden, bleibt dabei aber bestehen. Wichtig ist mir hier nur, daß dies in beide Richtungen gilt: Die religiöse Ethik muß sich auch nicht religiösen Subjekten verständlich machen können. Und die philosophische Ethik muß in der Lage sein, ihre Geltungsansprüche so zu formulieren, daß auch religiöse Subjekte sie nachvollziehen können. Selbstverständlich bedeutet "nachvollziehen" hierbei nicht, daß man den Standpunkt der anderen Person (oder Gruppe) übernimmt. Wenn ich nachvollziehen kann, weshalb mein Freund den Einsatz militärischer Mittel in einer bestimmten außenpolitischen Konstellation ablehnt, zwingt mich dies nicht dazu, diese Position auch zu teilen. Es bedeutet lediglich, daß ich seinen Standpunkt verstehe, die für ihn sprechenden Aspekte erkenne und die Beweggründe meines Freundes verstehe.
Ethisches Begründen muß also nicht zwangsläufig darin enden, daß die Beteiligten zu dem gleichen Ergebnis kommen. Es bewirkt aber, daß die Meinungsunterschiede und die abweichenden Wertvorstellungen transparent werden. Damit sind die Voraussetzungen für einen toleranten und auf gegenseitigem Respekt beruhenden Umgang miteinander geschaffen. Dies ist, wie die Erfahrung zeigt, unverzichtbar für eine plurale Gesellschaft, in der das Recht auf individuelle Selbstbestimmung einen zentralen Stellenwert einnimmt.
Eine solche Gesellschaft wird sicher nicht konfliktfrei sein. Aber sie kann sich Instrumente und Institutionen schaffen, mit Konflikten und Pluralität vernünftig umzugehen. Vielleicht reicht es an dieser Stelle aus, unter „vernünftig“ so etwas wie gewaltfrei, nicht unterdrückend, nicht ausgrenzend und nicht mißachtend zu verstehen.
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Der Fortschritt in den Lebenswissenschaften hat viele Gesichter. Wir lernen, zum Beispiel durch die Hirnforschung oder die Kognitionswissenschaften, immer besser zu verstehen, wie unser Denken, Wahrnehmen und Fühlen funktioniert. Damit gehen, selbst wenn wir den philosophischen Grundsatzstreit um die Willensfreiheit ausblenden, selbstverständlich auch die Möglichkeiten von zielgerichteten Beeinflussungen einher. Wir verstehen im Kontext der Humangenetik die kausalen Ursachen für individuelle menschliche Eigenschaften und Dispositionen zunehmend detaillierter. Auch wenn dieses Wissen zurzeit noch kaum in therapeutische Handlungsmöglichkeiten umgesetzt werden kann, sind die Zeiten humangenetischer Eingriffe sicher nicht mehr allzu fern.
Wenn sich uns diese neuen Handlungsoptionen im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts eröffnen, dann steht sofort die Frage im Raum: Zu welchen Zwecken und mit welchen Zielen soll dieses Wissen verwendet und sollen diese Techniken eingesetzt werden. Sollen z. B. Arbeitgeber oder Lebensversicherer Zugriff auf humangenetische Informationen bekommen, um Personen mit höherem Erkrankungsrisiko auszuschließen oder nur unter Beitragserhöhungen zu versichern? Sollte die Gesellschaft durch Prävention versuchen, die Leistungsfähigkeit oder auch die soziale Verträglichkeit von Menschen zu steigern? Soll es um die Verbesserung der Lebensqualität der einzelnen Menschen gehen, wie dies in der klassischen Medizin vorausgesetzt wird? Oder ist es auch legitim, über den gesundheitlichen Gesamtzustand der Gesellschaft (oder einzelner Gruppen – denken Sie beispielsweise an das Problem stark übergewichtiger Jugendlicher in den USA) nachzudenken. Ist Gesundheit ein individuelles oder ein kollektives Gut?
Und warum sollten wir die uns zur Verfügung stehenden neuen Möglichkeiten eigentlich nur zu Zwecken der Therapie und der Behebung von Defekten einsetzen? Menschen haben doch zu allen Zeiten und mit den verschiedensten Mitteln versucht, ihre Umwelt, ihre Nutztiere und auch sich selbst zu verbessern. Liegt es da nicht gerade in einer auf Leistung und individuelle Selbstverwirklichung ausgerichteten Gesellschaft nahe, auch über Verbesserung und Optimierung nachzudenken? Der Einsatz leistungsfördernder Pharmazeutika (sogenannten Enhancern) in Schulen und Universitäten ist ein stetig anwachsendes Phänomen. Wird, mit anderen Worten, Doping nicht nur zum Normalfall, sondern sogar zur moralischen Pflicht, wie manche Bioethiker meinen?
Die Fortschritte in der Medizin bringen weitere Aspekte mit sich, die unsere Gesellschaft mit normativ sehr grundsätzlichen Fragen konfrontieren: Es ist offensichtlich, daß die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen steigt. Dies bringt einige Probleme mit sich, die ich hier nur benenne: Das Verhältnis von Erwerbszeit und Ruhestand verschiebt sich, so daß die Finanzierung und nachhaltige Absicherung unserer Renten- und Pensionssysteme auf dem Prüfstand steht. Es liegt auf der Hand, daß dies komplexe Gerechtigkeitsfragen aufwirft, die man nicht einfach auf ökonomisch-technische Probleme reduzieren und dann einer technokratischen Expertokratie überlassen kann, die in Kommissionen scheinbar rein wissenschaftlich bestimmt, wie diese Fragen zu beantworten sind.
Gleiches gilt für die Frage einer gesamtgesellschaftlich organisierten Pflege und Betreuung von Menschen, die auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Wenn wir davon ausgehen, daß das in unseren Kulturen lange tradierte Modell einer Versorgung in der Großfamilie auf Dauer nicht mehr funktioniert, weil eben diese familiären Zusammenhänge sich ebenfalls deutlich verändern, dannb kommt hier auf unsere Gesellschaften ein großes humanitäres Problem zu. Wenn wir keine drastischen Einschnitte in die individuelle Selbstbestimmung und Lebensführung in Form extrem hoher Zwangsbeiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen vornehmen wollen, weil wir den Wert der Autonomie respektieren und hoch schätzen, dann werden wir in diesem Bereich dauerhaft unter der Bedingung der Mittelknappheit arbeiten und Lösungsmodelle entwickeln müssen.
Auch hier geht es, obwohl die politische Debatte häufig etwas anderes suggeriert, nicht nur um ein ökonomisches Problem oder eines, das mittels der scheinbar wert- und normfreie Kategorie des medizinisch Notwendigen beantwortet werden kann. Im Hintergrund steht die Frage, wie wir individuelle Selbstbestimmung und gesellschaftlich auferlegten Zwang zur solidarischen Absicherung von Lebensrisiken zueinander ins Verhältnis setzen wollen.
(i) Auf der einen Seite muß man den einzelnen Individuen das Recht zugestehen, damit aber auch die Pflicht auferlegen, selbst festzulegen, wie sie das Verhältnis von längerfristiger sozialer Absicherung und kurzfristigem Verfügen über privates Einkommen bestimmen wollen. Mit anderen Worten: Auf jeden von uns kommt die Herausforderung zu, selbst die eigene Wert- und Präferenzordnung in Form freiwilliger Versicherungen etc. festzulegen.
Dies ist eines von vielen Beispielen, in denen das Recht auf Selbstbestimmung unmittelbar in eine Pflicht zur Übernahme der Verantwortung für die eigene Lebensführung umschlägt. Und zwar in Bereichen, in denen wir es bisher gewohnt waren, daß staatlich strukturierte Institutionen uns diese Entscheidungen durch Pflichtsysteme abnahmen. Einerseits müssen wir zu Recht und eindringlich davor warnen, diese Verschiebung unter dem Stichwort der Eigenverantwortung einfach nur als Privatisierung von Kosten zu betreiben. Andererseits müssen wir aber anerkennen und damit diese Herausforderung auch aktiv annehmen, die neuen Gestaltungsspielräume individueller Selbstbestimmung verantwortungsvoll zu nutzen.
(ii) Auf der anderen Seite muß eine Gesellschaft – und dies geht nur durch rechtliche Regelungen, also über den Gesetzgeber – Rahmenbedingungen für diesen Gestaltungsspielraum definieren. Das bedeutet, daß wir uns als Gesellschaft in einem politischen Prozeß darüber werden verständigen müssen, was wir unter den Minimalbedingungen eines menschenwürdigen Lebens verstehen wollen, welche Mindestabsicherung wir jedem Menschen unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit zugestehen wollen und welche solidarischen Pflichtbeiträge wir von jedem Mitglied der Gesellschaft als Beitrag zur langfristigen und nachhaltigen Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme verlangen sollten. Denn aus der für unsere westlichen Demokratie charakteristischen Einstellung, der individuellen Selbstbestimmung in letzter Instanz den Vorrang vor anderen, ebenfalls hochrangigen Gütern wie soziale Sicherheit oder gesellschaftliche Teilhabe zu geben, folgt eben nicht – und hier liegt der Denkfehler eines ungehemmten Neoliberalismus und Marktradikalismus – die unbegrenzte Freiheit der Individuen. Vielmehr muß man aus Sicht der Philosophie unbedingt an der Einsicht festhalten, daß die Ausübung und Verwirklichung personaler Autonomie nur innerhalb des Rahmens und auf der Grundlage vernünftiger sozialer Institutionen möglich ist. Dies ist, Sie erlauben mir den Hinweis, eine der Grundeinsichten, die der Hegelschen Rechtsphilosophie zugrunde liegt.
Die Liste der Beispiele von ethisch drängenden Fragen, die einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion und Regelung bedürfen, ließe sich noch sehr verlängern. Der Fortschritt in der Medizin wirft etwa im Bereich der Fortpflanzungsmedizin die Frage auf, wie wir mit dem beginnenden menschlichen Leben umgehen sollten. Und am Lebensende werden wir neu darüber nachdenken müssen, was ein selbstbestimmter Tod sein und wie ein selbstbestimmter und humaner Sterbeprozeß organisiert werden kann. Dies sind zum Teil bittere Fragen, die keine einfachen Antworten erlauben. Vor allem aber erlauben sie es nicht, sich der Illusion hinzugeben, daß andere diese Fragen für uns beantworten könnten oder sollten: Wenn wir das Recht auf individuelle Selbstbestimmung einfordern, dann müssen wir auch die damit verbundene Pflicht auf Verantwortungsübernahme akzeptieren.
Selbstverständlich brauchen wir zur Regelung dieser Bereiche das Wissen der Experten, d. h. die Stimme der diversen Wissenschaften. Und natürlich werden die allgemeinen Strukturen und Rahmenbedingungen durch den Staat geschaffen werden müssen. Aber dies kann und darf unsere jeweils individuellen und im vernünftigen Streit der normativen Argumente gesellschaftlich ermittelten Norm- und Wertentscheidungen nicht ersetzen.
Mit anderen Worten: Der Fortschritt in den Lebenswissenschaften eröffnet uns neue Handlungsoptionen und Gestaltungsräume für eine größere individuelle Selbstbestimmung in der eigenen Lebensführung (die Emanzipation der Frauen durch die Einführung von Verhütungsmitteln etc. war hier nur eines der ersten Beispiele). Er wirft zugleich aber auch tiefgreifende und zum Teil neue normative Fragen auf, denen wir uns – individuell und als Gesellschaft – bewußt stellen müssen.
Wir müssen anerkennen und in unserer Lebensführung auch umsetzen, daß das Recht auf Selbstbestimmung zugleich die Pflicht auf eine eigenverantwortliche Lebensführung mit sich bringt. Zugleich ist es von äußerster Wichtigkeit, dies nicht nur als jeweils privat zu lösende Gewissensfragen oder biographische Entscheidungen zu verstehen. Wir werden diese Herausforderungen nur meistern können, wenn wir erkennen, daß wir für diese neuen Wege auch eine Entlastung durch vernünftige soziale Institutionen benötigen, die sich sicher nicht einfach durch die Eigendynamik ökonomischer Markmechanismen einspielen werden.
Damit ist auch gesagt, daß diese Entscheidungen in einem ganz genuinen Sinne politisch sind, weil sie unsere Interessen als Gesellschaft betreffen. Sie vernünftig zu wahren setzt daher einen gesellschaftlich normativen Diskurs über diese Fragen voraus, in dem wir selbst aktiv mitwirken. Die unbestrittene Notwendigkeit der Entlastung durch vernünftige Institutionen ist eben nicht gleichzusetzen damit, die Verantwortung an andere, z. B. an "Väterchen Staat", abzugeben. Ganz im Gegenteil: Dort wo uns eine paternalistische Bevormundung durch einen behütenden Staat oder eine die Entscheidungen an sich ziehende Expertokratie droht, dort müssen wir unsere Bürgerrechte verteidigen. Auch sie gehört zu den unverzichtbaren Bürgertugenden, ohne die eine Demokratie dauerhaft nicht funktionieren kann.
Und eines ist sicher: Ohne eine stabile Demokratie werden die Fortschritte in den Lebenswissenschaften ganz sicher eines nicht mit sich bringen: Einen Zuwachs an individueller Freiheit.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Unsere Länder weisen, zum Teil auf Grund unterschiedlicher historischer Erfahrungen und unterschiedlicher Kulturen, bedeutsame Unterschiede sowohl hinsichtlich der Struktur der sozialen Institutionen als auch hinsichtlich der normativen Einstellungen und Erwartungen aus. Darüber hinaus ist natürlich nicht zu verleugnen, daß sich die gegenwärtige ökonomische Situation von Deutschland und die von Ungarn signifikant unterscheiden. Es liegt auf der Hand, daß dies zum Teil gravierende Konsequenzen für die Gestaltungsmöglichkeiten hat, die wir in unseren Ländern derzeit haben.
Meine Überlegungen zu den gesellschaftlichen Herausforderungen, die der Fortschritt in den Lebenswissenschaften für unsere Gesellschaften und für jeden einzelnen von uns mit sich bringt, sind aber darauf ausgerichtet gewesen, die grundlegenden Spannungen und Aspekten aufzuzeigen, die tiefer liegen als diese ökonomischen Sachzwänge. Sie verweisen zum einen auf den Ort, wo wir – individuell, als demokratische Gesellschaft und in einem demokratisch verfaßten Europa – darum streiten und uns darüber verständigen müssen, wie und in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Hier darf es nicht sein, daß einzelne Länder oder einzelne gesellschaftliche Gruppen ihre Sicht der Dinge und ihre Werthaltungen zur Leitkultur für alle erheben.
Aber es ist auch nicht (mehr) möglich, sich in diesen Fragen von den Entwicklungen und Regelungen abzukoppeln, die in anderen europäischen Ländern vonstatten gehen oder in Geltung gesetzt werden. Faktisch ist heute in manchen normativen Fragen, wie beispielsweise die nach dem Status des menschlichen Embryos, die Differenz zwischen Deutschland und Großbritannien weitaus größer als die zwischen Deutschland und der Türkei. Dabei sind diese Länder auch in sich keineswegs einheitlich verfaßt: Die gravierenden Meinungsunterschiede – beispielsweise in Fragen der sozialen Absicherung, der Organisation der medizinischen Versorgung unter immer gegebener Mittelknappheit oder der Anerkennung individueller Autonomie im Bereich der Fortpflanzung und des Sterbens – ziehen sich quer durch unsere Gesellschaften, quer durch die Altersgruppen und in vielen Fällen auch quer durch die politischen Parteien. Dies wird, so vermute ich, obwohl ich leider kein Experte bin, auch in Ungarn nicht anders sein.
Wenn wir in einer demokratischen Gesellschaft und einem demokratisch verfaßten Europa leben wollen, dann haben wir keine Alternative: Wir müssen uns diesen drängenden Fragen sowohl in unserem individuellen Handlungskontext als auch im gesellschaftlich-politischen Rahmen stellen. Wer sich auf den Standpunkt stellt, er könne hier keinen Einfluß nehmen oder dürfe andere – seien es technokratische Experten oder politische Eliten – für sich entscheiden lassen, verweigert, was Kant einmal den Aufbruch aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit genannt hat. Dies sollten wir, auch im Sinne einer starken Zivilgesellschaft und eines demokratischen Europas, an keiner Stelle tun.
Dabei können wir, sowohl im individuellen Austausch, als auch in der länderübergreifenden Diskussion, voneinander lernen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir auf diesem Wege das Gespür für die Eigenheiten der jeweils anderen schulen und somit Mißverständnisse und, oft darauf aufbauend, Mißtrauen vermeiden könnten. Vielleicht aber besteht ja sogar die Chance, nicht nur die Fehler, die andere schon einmal gemacht haben, nicht zu wiederholen, sondern von den erfolgreichen Lösungsmodellen der anderen zu lernen.
Dabei benötigen wir starke und gesellschaftlich breit akzeptierte Wissenschaften, die sich mit diesen Fragen beschäftigen. Die Fragen sind viel zu komplex, als daß sie von einzelnen Wissenschaftlern oder im Rahmen nur einer Fachdisziplin behandelt werden könnten. Wir benötigen Strukturen, in denen interdisziplinäre Kooperation und das längerfristige Arbeiten in Forschungsverbünden möglich ist. Dabei sollte niemand, weder die Politik noch die Gesellschaft, von der Wissenschaft Rezeptbücher oder eindeutige Lösungsvorschläge erwarten. Letztendlich müssen wir, dies ist das große Privileg in Demokratien, selbst entscheiden und gemeinsam festlegen, wie wir leben wollen.
Daß in dieser wissenschaftlichen Anstrengung auch die ethische Dimension nicht vernachlässigt werden darf, weil es eben nicht nur um das ökonomisch Machbare oder das medizinisch Notwendige geht, sondern immer um die Frage nach dem guten und gelingenden Leben, relativ zu dem etwas ökonomisch machbar oder medizinisch notwendig ist, habe ich heute abend versucht zu begründen.
Deshalb, und bitte erlauben Sie mir diese Bemerkung pro domo – oder besser: an mein eigenes Fach gerichtet –, deshalb muß auch die Philosophie sich auf diese interdisziplinäre Forschung einlassen und sich dem riskanten Geschäft aussetzen, zu gesellschaftlich drängenden Fragen Stellung zu nehmen. In Deutschland hat dies vor knapp 30 Jahren begonnen. Und heute können wir feststellen, daß die Ethik der Lebenswissenschaften eine anerkannte Teildisziplin des Faches geworden ist. Die Sorge, daß die Philosophie sich auf diesem Wege nur vor den Karren politischer Eliten oder ökonomischer oder weltanschaulicher Interessenverbände spannen läßt und damit ihre Integrität verliert, kann heute als grundsätzlich entkräftet gelten.
Außerdem zeigt die große Nachfrage nach philosophischer Beteiligung in interdisziplinären Verbünden, die wir im deutschen Wissenschaftssystem gegenwärtig verzeichnen können, daß auch die Philosophie gebraucht wird und sie sich in diesen Kontexten bewährt, wenn sie das Selbstvertrauen und den Mut aufbringt, sich auch diesen Fragen zuzuwenden. Selbstverständlich geht das nur, wenn sie auch fachlich, d. h. in ihren Kernthemen stark ist. Aber unter dieser Voraussetzung gibt es für die Philosophie keinen Grund, die an sie herangetragenen Erwartungen nicht anzunehmen und sich vor dieser Verantwortung zu drücken.
Wenn Sie die Entwicklungen an der Universität Debrecen in den letzten Jahren ein wenig verfolgt haben, wissen Sie, daß wir hier in stetiger, vertrauensvoller und guter Zusammenarbeit dabei sind, solche Forschungsverbünde und -kontexte aufzubauen. Dies sind, davon wollte ich Sie heute mit meinem Vortrag überzeugen, keine Orchideen, die sich eine Gesellschaft im Zoo der Wissenschaften auch gönnt, sondern unverzichtbare Bestandteile einer Gesellschaft, die sich den Herausforderungen der Lebenswissenschaften in humaner und demokratischer Weise stellt.
Damit möchte ich auf die Titelfrage meines Vortrags als Antwort vorschlagen: Welche Werte? Diejenigen, die wir uns im demokratischen und an Vernunft ausgerichteten Austausch selbst geben.
Welches Maß? Dasjenige, welches wir in unserem Versuch, ein freiheitliches Gesellschaftssystem, das die Rechte der Individuen und die Würde der Menschen respektiert, entdecken, stets weiter entwickeln und flexibel an die jeweiligen Erfordernisse anpassen.
Diese Antwort bedeutet zum einen, daß wir in diesem Feld nicht mit ewigen, unbezweifelbaren Antworten rechnen dürfen, sondern uns auch für die Dinge einsetzen müssen, die wir für wertvoll und richtig halten. Und zum anderen bedeutet sie, daß wir alle uns selbst darum kümmern müssen. Demokratie und Freiheit werden uns sicher nicht einfach geschenkt: weder von der Wissenschaft, noch von der Technik, noch von Experten oder politischen Eliten, die allzu gerne bereit sind, diese Dinge für uns, aber eben ohne unsere Stimme, zu regeln.
Das sollten wir nirgendwo zulassen. Weder in unserem eigenen Leben, noch in unserer Gesellschaft, noch in einem immer noch zusammenwachsenden Europa.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!