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Die Deutsch-Ungarische
Gesellschaft e. V. (DUG) -
eine tragfähige Brücke
zwischen den Völkern!
VORTRAG am 10.07.2007 (Berlin)
Aktuelle Gedanken Hegels im Blick auf die politische Kultur in Ungarn
Referentin: Prof. Dr. Erzsébet RÓZSA, Professorin der Philosophie, Lehrstuhlinhaberin an der Philosophischen Fakultät der Universität Debrecen
Ort: Vortragssaal der Botschaft der Republik Ungarn, Unter den Linden 76, 10117 Berlin-Mitte
Datum/Uhrzeit: Dienstag, 10.07.2006, im Rahmen der DUG-Jahreshauptversammlung anläßlich der Wahl der Referentin zur Vizepräsidentin
Volker Gerhardt gewidmet
1. Problemstellung
Warum Hegel?
Und warum nicht Kant oder ein zeitgenössicher Philosoph, zum Beispiel Jürgen Habermas? Natürlich könnten Sie mir diese Fragen stellen. Die Antwort zu geben, daß Hegels Philosophie weit über zwanzig Jahren mein Forschungsgebiet ist, würde ich selber kaum befriedigend finden. Nicht nur deshalb, weil ich jetzt nicht auf einem Hegelkongreß vortrage. Vielmehr handelt sich um eine feste Überzeugung und inhaltliche Überlegung, die ich Ihnen im folgenden präsentieren möchte: Hegels Philosophie ist meines Erachtens als eine in vielerlei Hinsicht aktuelle aufzufassen, sogar auch in der Perspektive der heutigen Lage und Probleme der politischen Kultur in Ungarn. Die Erfahrungen der defizitären Züge der gegenwärtigen politischen Kultur meiner Heimat sind es, die mir Motivation waren, mich Hegel zuzuwenden, der mit einem unglaublich scharfen und fast prophetischen Blick zahreiche Widersprüche und Spannungen der Politik der sich modernisierenden Gesellschaften gesehen und treffend dargestellt hat. Er hat sogar versucht, nicht nur Diagnosen dieser Phänomene zu stellen, sondern auch Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Hegel war ein wichtiger Denker der Moderne – diese Behauptung würde kaum jemand heute bestreiten. (Auch Jürgen Habermas hat das anerkannt.) Hegel war der Denker einer mit Entgegensetzungen, dem "Diametralen", belasteten modernen Welt, die er in einem sehr differenzierten philosophischen System dargestellt hat. Die typischen Phänomene und die charakteristischen Trends der „neueren Zeit” und der „modernen Welt” hat niemand vor ihm so umfangreich und in vielerleie Hinsicht zutreffend thematisiert. Auch die weitreichenden Folgen und Auswirkungen der widersprüchlichen Natur der Moderne hat er in ihrer Tiefe erfaßt. Man kann es so ausdrücken, daß Hegel die Negativität der Moderne als Gefüge von Kollisionen und Extremen aufgezeigt hat, welche unausweichliche Konsequenzen der modernen Freiheit, das heißt des Grundwertes der Moderne, sind. Diese Paradoxie in der Moderne hat niemand vor ihm so tiefgreifend und scharfsinnig erkannt.
Hegel hat sich zugleich darum bemüht, Lösungsalternativen auszuarbeiten, durch welche die gefährdete Stabilität der Gesellschaft und sogar im extremen Fall ihr Zerfall verhindert werden kann. Stabile Institutionen und eine vernünftige praktische Stellung der Individuen zur Wirklichkeit sind bei ihm als „komplemänteres Modell” ein festes Fundament der Gesellschaft, so auch der Politik und der politischen Kultur. Eine solche zweipolige Struktur von angemessenen Institutionen und praktischen Stellungen dient gerade dem ausgeglichenen Funktionieren der kollidierenden Komponenten der modernen Gesellschaft.
Ungarn befindet sich in einer Phase seiner Geschichte, die als verspätete Modernisation zu kennzeichnen ist. In die Geschichte der mehrmals gescheiterten Erneuerungen des Landes sind die voluntaristisch-industrielle Modernisierung der 1950er Jahre wie auch die kadaristische Art Modernisierung mit Wohlstandselementen und gewissem freien Raum im Privatleben einzubeziehen. Ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Modernisierung war und ist die Herauskristallisierung demokratischer Strukturen und Institutionen nach westlichem Modell, die seit den 1990er Jahren stattfand beziehungsweise stattfindet.
Die heutigen defizitären Züge der Politik sind weniger im Bereich der demokratischen Institutionen, vielmehr in den mentalen und habituellen Eigenschaften und Einstellungen zu erkennen, die das Defizitäre der heutigen politischen Kultur ausmachen. Die Mischung und die verschiedenartigsten Kombinationen der Gedanken- und Gesinnungswelt von unterschiedlichen Perioden der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist ein charakteristisches Phänomen im politischen Bewußtsein. Die verschiedensten Elemente des geschichtlichen Bewußtseins mit Verlustgefühlen in Bezug auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg werden in das politische Bewußtsein der Gegenwart mit einbezogen, ohne aber die genaue geschichtliche Bedeutung der vorliegenden Elemente korrekt aufzuzeigen. Darum ist das politische Bewußtsein der Gegenwart mit unklaren Elementen des geschichtlichen Bewußtseins belastet, seien sie aus den geschichtlichen Ereignissen vor dem Zweiten Weltkrieg oder aus den 50er Jahren oder aus den 70er Jahren des 20. Jarhunderts genommen. Es ist deshalb kein Wunder, wenn es Ungarn an einem korrekten, zeitgenössischen politischen Bewußtsein in vielerlei Hinsicht mangelt.
Ohne ein klar artikuliertes, geschichtlich korrektes und nicht parteipolitisch und sogar tagespolitisch (medienpolitisch) geprägtes politisches Bewußtsein ist das normale Funktionieren der demokratischen Strukturen kaum vorzustellen. In diesem Sinne kommt es darauf an, wie die Ausbildung einer modernen politischen Kultur in Ungarn vollzogen werden kann, was Hegel in seinem Programm der Bildung zur Freiheit formuliert hat. Es handelt sich darum, daß die Zukunft der politischen Kultur auch die Zukunft des Landes tiefgreifend beeinflußt. Es geht ferner auch darum, daß eine moderne politische Kultur nicht nur von Parteien abhängt, wie es von vielen vertreten wird, sondern auch von uns, von den einzelnen Bürgern, von unserer Civilcourage und von unserem Citoyen-Verhalten. Ein solches politisches Bewußtsein auszubilden, das heißt ein zeitgenössisches Programm der Bildung zur Freiheit zu verwirklichen scheint mir unausweichlich zu sein, wozu auch Traditionen wie die Hegelsche beitragen können.
Welcher Hegel?
Im folgenden berufe ich mich nicht auf den jungen Hegel, den wir nach zweihundert Jahren Phänomenologie des Geistes von 1807 in diesem Jahr überall feiern. Hier berufe ich mich auf den Berliner Hegel, der von 1818 bis seinem Tod, bis 1831, Philosophieprofessor der Berliner Universität war, und der unweit von hier Am Kupfergraben gewohnt hat. Er war schon Professor in Heidelberg, als er den Ruf nach Berlin erhielt. Von Stein als Kulturminister und Kanzler Hardenberg standen in Hegels Augen für die Reformära Preußens, der er sich verpflichtet fühlte. Die wenn auch mäßigen Reformen haben ihn doch bezüglich der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zukunft Deutschlands mit Optimismus erfüllt, darum hat er den Ruf angenommen.
2. Einige Schlüsselgedanken der Hegelschen Deutung der Moderne
Eine der wichtigsten Einsichten Hegels ist die Forderung des ausgeglichenen Funktionierens der Grundstrukturen der modernen Gesellschaft. Eine moderne Gesellschaft kennzeichnet, daß sie über relativ selbstständige Sphären wie ökonomische, soziale und politische Strukturen und Mechanismen verfügt. Die Trennung des privaten Lebens von dem öffentlichen ist auch ein wichtiges Kennzeichen der modernen Welt. Aber jede Sphäre strebt danach, einen stärkeren Einfluß auf die Menschen auszuüben als die anderen. Gegen diese kollidierende Tendenz der einzelnen Sphären der Gesellschaft sollen Ausgleichsmodelle zwischen den divergierenden Elementen ausgearbeitet und zur Geltung gebracht werden, um die Gesellschaft, inklusive auch die Lebenswelt der Individuen, zu stabilisieren.
Die institutionellen Strukturen als „objektive Garantien” hat Hegel in dieser Hinsicht bevorzugt. Darum hat er das Konzept des starken Staates oder der stabilen Ehe ausgearbeitet: Stabile Institutionen können der Lebenswelt von freien Individuen, die von divergierenden Motiven angetrieben werden, Stabilität geben. Zugleich hat er betont: Es hängt sehr viel von den Individuen ab. Das moderne Individuum ist ein freies Wesen. Der moderne Mensch verfügt über eine Reihe von Freiheitsrechten, die die Menschheit noch nie in ihrer Geschichte hatte.
Diese „unendlich subjektive Freiheit” als „Idee” und „Prinzip” der „neueren Welt” soll aber verwirklicht werden können – das ist eine typisch Hegelsche Überlegung. Dazu braucht man nun eine Art Kultur der Freiheit: Vernünftige Einsicht in die Strukturen und Mechanismen der Wirklichkeit, in die Freiheit von anderen als Grenze der eigenen Freiheit sowie die vernünftige Einsicht in die Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit im Prozeß der Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen sind in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung. Diese Kultur der Freiheit, die auch die Beschränkung als Selbstbeschränkung enthält, ist ein Schlüsselelement der modernen Kultur der Freiheit, worauf die Fähigkeit und Bereitschaft gebaut werden kann, Konsense und Kompromisse mit anderen schließen zu können und zu wollen, um die eigenen Interessen und Motivationen zu verwirklichen. Der so verstandene Vermittlungsgedanke Hegels hat an seiner Aktualität nichts verloren. Im Bereich des Politischen heißt Vermittlung der Ausgleich von liberalen und konservativen Elementen, worauf Ch. Taylor aufmerksam gemacht hat.
Im Hintergrund des Vermittlunsgedankens ist Hegels Überlegung vom Zusammenwirken der institutionellen Komponenten und subjektiven Haltungen, Gesinnungen und Praktiken zu erkennen: Gerade dieses Zusammenwirken kann die Freiheitsrechte garantieren und sogar auch ihre Realisierbarkeit absichern. In diesem Sinne hat Hegel den Wirklichkeitscharakter der Freiheit in das Zentrum seiner Philosophie gestellt.
Wenn der Ausgleich als zentrales Element der Vermittlung aus irgendeinem Grund verletzt oder außer acht gelassen wird, führt das zur Gefährdung der Freiheit. In dieser Hinsicht ist Hegels Diagnose über die Extreme der modernen Gesellschaft als ihre strukturelle Kennzeichung bis heute aktuell. Die Freiheit eines jeden als Idee und Prinzip der modernen Welt enthält die Möglichkeit, daß jeder vor allem und über alles seine Freiheit bevorzugt. Diese in der Moderne tief angelegte egozentische Einstellung kann zu gefährlichen sozialen, ökonomischen und politischen Folgen führen, wenn die Gegenmechanismen, das heißt Ausgleichmotiven, nicht berücksichtigt und nicht verwendet werden.
Die Extreme der modernen Freiheit sind in sozialen und wirtschaftlichen Phänomenen zu beobachten, die Hegel in dem Reichtum und Luxus auf der einen Seite, in der Armut und Pöbelmentalität auf der anderen Seite erkannt hat. Die Extremisierung als Entartung der Freiheit und Vernachlässigung der Ausgleichmechanismen sind in dem politischen Phänomen des Terrors und in dem Phänomen des religiösen Fanatismus zu erkennen. Die Verknüpfung des politischen und des religiösen Fanatismus als eines der typisch gewordenen Phänomene der modernen Gesellschaften hat Hegel in seiner Rechtsphilosophie von 1820 diagnostisiert.
Hegel hat auch einige charakteristische Merkmale der modernen Massengesellschaft erkannt. Die Armut und die damit verknüpfte Pöbelmentalität stellen ein wichtiges Beispiel dafür dar. Für Hegel war die Armut nämlich nicht nur ein rein ökonomisches Problem wie für die britischen Ökonomen, die er eingehend studiert hat. Das Prinzip, aus der eigenen Arbeit zu leben, das er von Adam Smith übernommen hatte, bedeutete für Hegel auch, daß man über Werte verfügt, die die ökonomischen Werte übersteigen. Die Arbeit hat auch einen moralischen und sittlichen Sinn und Kontext. Eigene Arbeit wurzelt in dem Recht auf „Selbstbestimmung”, die die Autonomie der Persönlichkeit begründet. Die eigene Arbeit ist auch vom „Recht des Wissens” als Recht auf Bildung und als Recht auf Bildung zur Freiheit nicht zu trennen. „Ehre” und „Rechtschaffenheit” sind wichtige Werte, die auf der eigenen Arbeit beruhen. Der Mensch mit Pöbelmentalität verfügt über solche Werte, Motive und Motivationen nicht. Die Pöbelmentalität als Folge der Armut und der Unkultiviertheit hat Hegel in seiner Rechtsphilosophie, die er als Professor der Berliner Universität in dieser Stadt veröffentlich hat, scharfsinnig und bis heute gültig dargestellt.
Arbeitslos zu sein heißt also für ihn nicht nur Armut im finanziellen oder wirtschaflichen Sinne, sondern vor allem Armut im sozialen, politischen und kulturellen Sinne. Die Rechte der Selbstbestimmung auf das eigene Leben beziehungsweise die Bedingungen der Geltendmachung dieser Rechte sind gefährdet, wenn man arbeitslos ist. Soziale Hilfe ist ein wichtiges Mittel gegen die Armut auch in Hegels Augen. Das ist aber nur subjektive, zufällige, beliebige Hilfe, womit das Problem im Grunde genommen kaum gelöst werden kann. Er hat gewisse Züge des Sozialstaates aufgezeigt, aber er war nicht der Meinung, daß dies eine beruhigende Lösung für diese Probleme bedeutete. Die Erklärung liegt darin, daß das Recht auf Arbeit vom Recht auf das eigene Leben und dessen Verwirklichung nicht getrennt werden kann und darf.
Eben aus diesen Gründen war für Hegel entscheidend, wie die institutionellen und die mentalen Bedingungen der modernen Freiheit als Freiheit eines jeden abgesichert und entwickelt werden können.
Seine Konzeption des starken Staates ist auch in dieser Perspektive zu deuten. Der starke Staat stellt ein ausdiffenziertes System dar: Die Ausdifferenzierung bedeutet gegenseitige Abhängigkeit und damit auch gegenseitige Kontrolle von Elementen des Staates. Die Machtaufteilung, den Grundgedanken der neuzeitlichen politischen Philosophie, hat Hegel aufgenommen und in seine Konzeption des starken States als objektive Garantie des ausgeglichenen Funktionieren der sich extremisierenden modernen Gesellschaft eingebaut.
Seine Konzeption des starken Staates hat nicht die Restitution des alten Staates als Polis oder der germanischen Welt abgezielt: Er war realistisch genug, um solche Illusionen nicht zu verfolgen (H. G. Gadamer). Die Konzeption des starken Staates zielte vielmehr darauf ab, den Staat als eine differenzierte Struktur der objektiven Ordnung von Gesetzen und Einrichtungen aufzufassen, was gegen willkürliche Entscheidungen der Politiker, gegen die Pöbelisierung des Verhaltens der sozialen Unterschichten und gegen die Massengesellschaft eine Art objektive Garantie bedeutete. Eine ausdifferentierte, gegenseitig begrenzte und kontrollierte objektive Ordnung von politischen Institutionen kann die Gesellschaft vor dem Zerfall schützen, der durch die Extremisierung der wirtschaftlichen, sozialen Komponenten und der politischen Faktoren eintreten kann. Den anderen, vor Extremisierung und Zerfall der Gesellschaft schützenden Faktor stellt die politische Kultur der Bürger dar.
Ein moderner Staat braucht bei Hegel zunächst Verfassung, die ihn stark macht. Die Verfassung ist die wichtigste objektive Garantie der Freiheit der Bürger. Der starke Staat braucht ferner eine Beamtenschicht mit Fachkompetenz, die nicht korrumpierbar ist. Fachkompetenz der Beamten und das Minimalisieren ihrer Korrumpierbarkeit sind zwei wichtige Merkmale für das Wesen der Beamtenschicht in einem effektiv funktionierenden Staates. Zur Effektivierung seiner Aktivitäten braucht der Staat aber darüber hinaus einen jeden als Citoyen und nicht nur als Bourgeois: der Bürger als Bourgeois, das Bürgertum als Bourgeoisie verfolgen nur die eigenen, privaten Interessen. Das tun aber auch die korrumpierbaren Abgeordneten oder Beamten. Die angemessene Besoldung ist ein mögliches Mittel gegen die Korrumpierbarkeit. Man weiß heute, daß Hegel in dieser Frage geirrt hat: Die gute Besoldung ist keine absolute Garantie gegen Korruption.
Die Verfolgung der privaten Interessen findet nicht in dem Staat, sondern in der bürgerlichen Gesellschaft statt, wo man sich als Bürger verhält, das heißt seinen Beruf auf dem sozialen Feld der Gesellschaft ausübt. Aber ein jeder ist mehr als ein Individuum: Ein jeder bindet sich in verschiedenartigen Gemeinschaften. Hegels Individuum ist nie atomistisch und isoliert wie das Individuum der Vertragstheorien. Das individuelle Leben ist mit anderen in vielerlei Hinsicht verbunden. Die intersubjektive Natur des Menschseins ist eine wichtige Hegelsche Überlegung, die in den heutigen Hegeldiskussionen über die Anerkennung (L. Siep, A. Honneth und die amerikanischen Neopragmatiker) oder aber auch in dem politisch aktuellen Solidaritätsgedanken akzentuiert wird. Den sozialen Charakter des Menschseins als eines Seins des Individuums hat Hegel in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt.
In dem Gedanken der Intersubjektivität des individuellen Seins kommt nicht nur der soziale Charakter, sondern auch das „Substantielle” im Menschsein zum Vorschein, was auch für ein modernes politisches Bewußtsein unentbehrlich ist. Das vernünftige Zusammenspiel des Individuellen, des Intersubjektiven (des Sozialen), oder mit Hegel gesagt, der Privatperson und der substantiellen Person in mir und in einem jeden kann die angemessene Basis der sozialen und politischen Aktivitäten werden. Das ist eine wichtige Bedingung für die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Konsens sowie das Finden und die Verwirklichung eines Konsenses seitens der Individuen und Gruppen.
In einer normalen modernen Gesellschaft sind die privaten Interessen erst dann zu befriedigen, wenn man auch die Interessen von anderen berücksichtigt und mit ihnen kalkuliert. Das Gemeinwohl ist aber mehr als eine einfache Zusammenstellung des Interesses von A und des von B. Hegel redet von „substanieller Gesinnung”, in die zum Beispiel die Zugehörigkeit zur eigenen Heimat einzuordnen ist. Auch diese und andere substantielle Gesinnungen existieren im Rahmen der modernen Staatlichkeit, die darum mit dem Rechtsstaat nicht identisch ist. Der moderne, liberale Rechtsstaat ist zwar eine wichtige Komponente des angemessenen modernen Staates. Er ist aber doch mehr als Rechtsstaat: Der moderne Staat verfügt über ein differenziertes Rechtssystem beziehungsweise über eine Rechtskultur der einzelnen Bürger und über inhaltlich und normativ bestimmte Gesinnungen, die in der Kultur und Geschichte eines Staates, eines Landes, eines Volkes wurzeln. Rechtsstaat und substantiv-normative Bestimmungen schließen einander nicht aus, im Gegenteil: Darum setzt die moderne Heimatliebe auch die Existenz der modernen Rechtsstaatlichkeit voraus. Das heißt, die Menschen sollen sich von Gemeinschaften, Traditionen, Normen und Werten ihrer Kultur nicht trennen lassen, im Gegenteil: Solche Werte können sinnvolle Inhalte für politische Aktivitäten auch in einer modernen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat darstellen. In diesem Sinne ist Hegels Stellungnahme als eine eigenartige, auf jeden Fall sinnvolle Alternative aufzufassen, die eine Art Kombination von liberalen und konservativen Elementen darstellt.
Im Hintergrund der Hegelschen Konstellation von liberalen und konservativen Elementen ist folgende Überlegung zu erkennen: Nicht nur die abstakte Moral eines Individuums oder nicht nur abstrakte Freiheitsrechte an sich, sondern auch der soziale und der kulturell-geschichtliche Kontext dieser Rechte sind für die Bestimmung des guten Lebens im heutigen Sinne unausweichlich. Gerade dieser Hegelsche Komplex von Rechten, Selbstdeutungen und Selbstbestimmungen, Rechtskultur der einzelnen, sittlichen Bindungen und Inhalten stellt einen Maßstab und Orientierungspunkt für die Lebensführung der modernen Individuen dar. Von daher ist verständlich, daß er Kants moralisches Gesetz kritisiert, als er feststellt: Aber nicht das abstrakte Gesetz, sondern der wirkliche Mensch ist es, der handelt. Dieser wirkliche Mensch im Ganzen seines Lebens und im rechtlichen, moralischen, geschichtlich-kulturellen Kontext dieses Lebens ist das Subjekt einer Philosophie, die die moderne Welt und Zeit angemessen verstehen und darstellen möchte, um durch Bildung zur Freiheit zum guten Leben des modernen Menschen beizutragen.
Der Wirklichkeitscharakter der Freiheit zeichnet Hegels Auffassung aus und macht ihn zu unserem Zeitgenossen. Hegel war Pragmatiker, wie ihn heute die Amerikaner (zum Beispiel Robert Brandom) deuten. Aber sein Pragmatismus war an Werten und Normen, Traditionen der Kultur orientiert. Angemessenes Handeln ist nicht ein ausschließlich pragmatisch sinnvolles Handeln, sondern immer auch die Einbeziehung von und das Streben nach Werten, Rechten und Ideen sowie (der Wunsch nach) deren Verwirklichung durch dieses Handeln. Ein Mensch kann auf verschiedene Weise handeln. Der Mensch soll bei Kant dem reinen moralischen Gesetz folgen. Bei Hegel ist dies unmöglich, insofern der „wirkliche Mensch” im Zentrum seiner Menschenauffassung steht. Und der wirkliche Mensch hat verschiedenartige und vielerlei Motivationen, Neigungen, Wünsche, Bedürfnisse, darum kann er ganz unterschiedlich handeln. Zunächst glaubt er, er kann nur seine privaten Interessen verfolgen. Das hat Hegel als unangemessen und ineffektiv betrachtet: Man kann auch seine privatesten Interessen nur unter Berücksichtigung der ebenso gerechten Privatinteressen von anderen erreichen. Der Mensch handelt mit Verstand, wenn er mit Interessen von anderen rechnet und diese kalkuliert, kurz: sie in sein Handeln einbezieht.
Der Mensch kann aber auch vernünftig handeln, was Hegel als höchste Art von menschlichen praktischen Aktivitäten bewertet hat: Vernünftig zu handeln heißt, daß ich auch Werte, Normen und Traditionen von Gemeinschaften und Kulturen durch mein und in meinem Handeln vertrete und verwirkliche, welche als Werte zum Umkreis meiner Lebenswelt und zur Kultur meines Lebens gehören. Das heißt, ich verfolge über meine privaten Motivationen hinaus auch Motivationen, die mich zur „substantiellen Person” machen. Vernünftig handeln heißt also, moralisch-individuell und gleichzeitig sittlich-kulturell-sozial und politisch richtig zu handeln. Vernünftig handeln heißt ferner, daß ich die Vernünftigkeit der Welt als objektive Ordnung der Realität und deren Institutionen erkennen und darin mich auskennen kann. Die Vernüftigkeit von Handlungen und Weltstrukturen erkennen heißt aber auch, das Vernünftige und das Unvernünftige der Welt und der Handlungen unterscheiden zu können. Die Bildung zur Freiheit bereitet den Menschen vor, auch diese Unterschiede treffen zu können. Die besondere Bedeutung der vernünftigen Handlungsweise für die Individuen besteht darin, daß die Integrität und Identität des Individuums ohne eine solche Vernünftigkeit nicht erreicht werden können.
Die Vernünftigkeit von Aktivitäten als Grundkomponente der Freiheit ist aber nicht gegeben, sondern uns aufgegeben, das heißt eine kulturelle und individuelle Leistung. Die Bildung zur Freiheit ist Hegels Ausdruck, mit dem er diese grundlegende Kennzeichung der modernen Gesellschaft erläutert hat. Das heißt verschiedenes.
Erstens: Man soll gebildet werden, und zwar ein jeder. Die Freiheit soll durch kulturelle Formen (Schule, sittliche Erziehung) gebildet werden.
Zweitens: Aber man soll sich auch bilden. Darin kommt zum Ausdruck, daß sehr viel von uns als freien und vernünftigen Wesen abhängt. Die institutionelle Ausbildung und die Bildung der Freiheit sind unausweichliche Komponenten sowohl der modernen Gesellschaft als auch der Lebenwelt des einzelnen Menschen.
3. Einige Gedanken zu Hegels Konzept der modernen politischen Kultur
Die Freiheit, die einem jeden in der moderen Welt zugeschrieben wird, bringt die Aufwertung der Individualität mit sich, die einerseits zu Extremen des Individualismus, andereseits zu modernen Massengesellschaften führen kann. Die großen Individuen verschwinden: Napoleon war das letzte große Individuum. Die Mittelmäßigkeit nimmt zu, wie es Hegel auch in seiner Ästhetik und Kunstphilosophie dargestellt hat. Das führt zum Verschwinden des Tragischen und des Poetischen aus dem modernen Leben. Das Dramatische bleibt zwar, wird aber prosaisch: mittelmäßig und sogar kleinkariert, lächerlich. Die prosaisch-mittelmäßige wie auch die ironische Haltung ist eine angemessene Einstellung angesichts der Größe des Charakters der verlorenen Welt. Das bringt die Abwertung und das Außerachtlassen der sittlichen Werte mit sich. Die Abwertung der Größe der Persönlichkeit im sittlich-politisch-gemeinschaftlichen Sinne trägt zur Abwertung der traditionellen Bedeutung der Politik bei, die bei Platon und Aristoteles begründet war. Das Gemeinwohl verliert darum radikal an Bedeutung.
Die ambivalenten Merkmale der modernen Massengesellschaft hat Hegel in verschiedenen Zusammenhängen erörtert. In der besonderen Bedeutung der Öffentlichkeit beziehungsweise der öffentlichen Meinung in der Moderne sieht er einen Gewinn, aber auch eine Gefahr. Die Bedeutung der Öffentlichkeit und deren Komponenten besteht darin, daß jeder nicht nur das Recht auf Redefreiheit hat, sondern auch die reale Möglichkeit, seine Meinung vor diese Öffentlichkeit zu bringen. Das Recht auf Redefreiheit kann und soll also praktiziert werden, was in und durch die öffentliche Meinung möglich ist. Aber das kann zur extremen Individualisierung der Gesellschaft führen, weil ein jeder der eigenen Meinung ist, die sich von der der anderen unterscheiden will. Das macht die Gesellschaft, aber auch die Haltung der Individuen instabil. Eine andere Gefahr ist die Meinungsprägung durch Massen. Die Individualisierung und die Ausprägung der Massengesellschaft sind also strukturelle Folgen der Moderne bei Hegel, was sich auch auf die Politik auswirkt.
Die Politik enthält politische Institutionen, die Hegel objektive Ordnung genannt hat, oder politische Kultur, die die „subjektive Seite” der modernen Politik ausmacht. Die besondere Bedeutung der politischen Kultur wurzelt in der subjektiven Freiheit als Prinzip der Moderne. Die politische Kultur heißt bei Hegel nicht nur die Innehabung der Rechte, die zur modernen Freiheit gehören, sondern und vor allem die Ausübung dieser Rechte. Das Praktizieren dieser Rechte soll aber angemessen sein, das heißt sittlichen Kriterien entsprechen, und nicht nur privaten, zufälligen, individuellen Motivationen folgen.
Die von Hegel geforderten sittlichen Kriterien sind aber in der Moderne nicht mit der Polis zu identifizieren. Es geht vielmehr um Vermittlungsmöglichkeiten, die im Spannunsgfeld von Privatem und Substantiellem ausgeprägt werden können. Es geht um Haltungen, Motivationen und Aktivitäten, die teils individuell und privat sind. Davon kann man in der Moderne nicht mehr absehen. Darüber hinaus handelt es sich aber auch um die Bereitschaft, mit anderen, ebenso individuell motivierten Menschen zusammenzuwirken, um einen Konsens zu finden. Der Konsens im politischen Sinne enthält auch die Anerkennung und Geltendmachung, das heißt das zur Geltung Bringen von sittlich-substantiellen Normen und Werten, die niemand enteignen darf. Das Substantielle, das heißt Kultur und Geschichte eines Volkes, ist Gemeinwohl und gehört keinesfalls zum Besitz eines einzelnen oder jedes Angehörigen des jeweiligen Volkes. Die Politik ist Gemeinwohl auch in dem Sinne, daß ein jeder daran beteiligt werden soll. Aktivitäten mit Fachkompetenz der Beamten und Abgeordneten oder die politischen Aktivitäten der Citoyens bilden zusammen die politische Kultur einer modernen Gesellschaft. Man darf also nicht Außenstehender bleiben: Ein jeder soll seine Aufgabe im Gefüge des politischen Systems finden und erfüllen. Gleichgültigkeit wie auch extreme politischen Äußerungen sind bei Hegel nicht gewünscht: Sie stören die Vermittlungsmöglichkeiten und das Suchen nach Kompromissen und Konsensen, die den einzigen Weg der modernen Gesellschaft bilden, die der Extremisierung schon an sich ausgeliefert ist.
Die Kompromiß- und Konsensbereitschaft einer Gesellschaft ist die entscheidende Komponente nicht nur der politischen Kultur, sondern auch der Lebenswelt der einzelnen. Hegel hat die moderne Gesellschaft mit der Metapher eines organischen Ganzen dargestellt. Wenn eines der Organe nicht angemessen funktioniert, hat es weitere Auswirkungen auf das Ganze. Das heißt auch: nicht nur die Politiker sind für das gesunde Funktionieren einer modernen Gesellschaft verantwortlich, sondern ein jeder.
Die politischen Aktivitäten, die die Freiheitsrechte garantieren, sollen in die Lebenswelt eines jeden eingebaut werden.. Hegel hat über die Freiheitsrechte hinaus auch Vermittlungsformen als Bereitschaft für Kompromisse und Konsense im Bereich des Politischen aufgezeigt, die der Stabilisierung der Lebenswelt und der Makrostrukturen der Gesellschaft dienen. Die Bedeutung dieser Vermittlungsformen besteht darin, sowohl vor der Gefahr der Individualisierung, als auch vor den negativen Folgen der Massengesellschaft zu schützen. Das ist etwas, das die Freiheitsrechte an sich nicht bieten können.
Hegel war der Meinung, man lernt nichts aus der Geschichte. Aber aus der Philosophie schon. Und wir haben viel zu lernen, auch von ihm.
Adresse in Ungarn:
Prof. Dr. Rózsa Erzsébet
Debreceni Egyetem, BTK Filozófiai Intézet
Egyetem tér 1.
H-4032 DEBRECEN