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Die Deutsch-Ungarische
Gesellschaft e. V. (DUG) -
eine tragfähige Brücke
zwischen den Völkern!
VORTRAG am 05.12.2005
Migration in Ungarn - Siedlungspolitik des Wiener Hofes und ungarischer Magnaten im 18. Jahrhundert
Referent: Dr. Norbert SPANNENBERGER (GWZO an der Universität Leipzig)
Ort: Vortragssaal im Collegium Hungaricum, Karl-Liebknecht-Str. 9, 10178 Berlin-Mitte
Datum/Uhrzeit: Montag, 05.12.2005. um 19:00 Uh
Einführung in den Vortrag von Dr. Norbert Spannenberger:
Der Vortrag befaßt sich mit einer der letzten großen zielstrebig betriebenen Zuwanderungen nach Ungarn. Mit dem Ende der Osmanischen Besetzung (Niederlage vor Wien 1683; Rückeroberung von Buda 1686; Befreiung Belgrads und Siebenbürgens 1688; Friede von Karlowitz 1699) blieb ein weithin verwüstetes, auch entvölkertes Ungarn zurück. Verwüstet vor allem, weil sich die Kriege gegen die Osmanen insbesondere auf dem "Schlachtfeld Ungarn" zugetragen hatten (Ungarn war das Aufmarschgebiet bei den Belagerungen Wiens, und es war der Kampfplatz für die Truppen der in der Heiligen Liga zusammengeschlossenen Fürsten- und Königshäuser bei der Vertreibung der Osmanen), entvölkert vor allem, weil sich die Bevölkerung durch Flucht ihr Leben hatte sichern wollen: entweder in die weniger in Mitleidenschaft gezogenen Teile des Habsburgerreiches oder zumindest durch Flucht in die befestigten Städte, wodurch das flache Land verödete und die Dörfer aufgelassen wurden. Die gewachsenen Strukturen des mittelalterlichen Siedlungsnetzes waren zerstört, das landwirtschaftlich ergiebige Alföld - die Pannonische Tiefebene - war zu einer von Sümpfen und Wildnis durchzogenen Landschaft geworden.
Es wäre allerdings viel zu kurz gegriffen, wollte man diese ungarischerseits landläufige Meinung über die Auswirkungen der Besatzungszeit der Osmanen und das für das Land "verheerende" Ende ihrer Herrschaft ohne Ergänzung übernehmen. Es war in allen der osmanischen Herrschaft unterworfenen Regionen (auch in den Gebieten des heutigen Vorderen Orients) zu beobachten, daß die Osmanen an den Kontributionen der unterworfenen Bevölkerung das vorrangige Interesse hatten, nämlich an der Steuerzahlung, gegebenenfalls am Kopfgeld (sprich: Schutzgeld) für Angehörige der Buchreligionen. Diese Zahlungen waren nur möglich, wenn die Zahlungspflichtigen in der Lage waren, die Güter als Grundlagen für ihre Tributzahlungen zu be- und die Erträgnisse zu erwirtschaften. Ein gutes Beispiel stellte die Tributpflicht Siebenbürgens dar, in dessen Belange sich die Hohe Pforte (nur) einmischte, wenn Umstände eintraten, die diesen Tribut gefährdeten. Ansonsten genoß das Fürstentum Siebenbürgen eine seine inneren Angelegenheiten betreffende Autonomie.
Weiteres Indiz für das osmanische Interesse an einem leistungsfähigen, nicht durch großflächige Verwüstungen behinderten Wirtschaftsleben waren die regen Handelsbeziehungen, die sich für die am südlichen Rand des Alfölds liegenden Ortschaften als besonders einträglich erwiesen; vor allem im Fleischhandel gibt es lückenlose Nachweise für die beiden Seiten nutzenden Wirtschaftskontakte, die sogar von den Osmanen mit Privilegien für die ungarischen Großhändler unterstützt wurden und aus ungarischer Sicht keinesfalls als verdammenswerte "Kollaboration" galten.
Schließlich war es leichter, den Osmanen nach ihrer Vertreibung die Hinterlassenschaften der zwanzig Jahre währenden Kuruzzenaufstände (unter Graf Imre [Emmerich] Thököly und Fürst Ferenc [Franz] Rákóczi II. im 17. Jahrhundert, nicht zu verwechseln mit den Kuruzzenaufständen unter György Dózsa Anfang des 16. Jahrhunderts) und die Verwüstungen der "Befreiungs-"Kriege anzulasten, die einmal von den verschiedenen Adelsfraktionen getragene und von ihren untereinander nicht übereinstimmenden Interessen am Leben gehaltene Aufstände und Bürgerkriege, zum anderen gegen die Angliederung Ungarns an das Habsburgerreich gerichtete Kämpfe waren (was ebenfalls für ungarische Adelshäuser reichlich Anlaß bot, gegeneinander für ihre jeweils eigenen Interessen zu fechten und nicht gemeinsam gegen Habsburg für die Unabhängigkeit Ungarns).
Hinzu kamen die stark religiös geprägten Restaurierungsbestrebungen der katholischen Habsburger gegen das von den Lehren Luthers und Calvins gespeiste erfolgreiche Vordringen der Reformation - dieser vom "Einrichtungswerk", einer Art Wiederaufbauplan der Habsburger für Ungarn, getragene "religiöse roll-back" war die keineswegs unblutige Antwort eines absolutistischen Staates auf die von Luther postulierte "Freiheit eines Christenmenschen" - weiter nördlich hatten vergleichbar erbitterte religiöse und damit machtpolitische Auseinandersetzungen dem Dreißigjährigen Krieg seinen Namen gegeben (der Friede von Münster und Osnabrück von 1648 lag gerade einmal vierzig Jahre zurück).
Die neuere ungarische Geschichtswissenschaft geht davon aus, daß Ungarn unter den Adelskämpfen und unter dem Bestreben der Habsburger, das ihnen nach der Vertreibung der Osmanen als Kriegsbeute zugefallene Ungarnland unter ihre Botmäßigkeit zu zwingen, mindestens ebenso litt wie unter der militärischen Vertreibung der Osmanen, wenn nicht die ungarischen Bürgerkriege sogar schwerere und langfristiger wirkende Schäden hervorgerufen haben.
Wie auch immer: es bedurfte in jedem Fall dringend eines Wiederaufbaus des Landes, seiner wirtschaftlichen Konsolidierung und als Voraussetzung dafür einer Kompensation der erlittenen Bevölkerungsverluste und einer Entballung der Zentren zu Gunsten des flachen Landes. Neben der Binnenwanderung aus dem nördlichen Transdanubien und aus Oberungarn (der heutigen Südslowakei) in das südliche Alföld und ins Banat und dem Zustrom von Rumänen über die südlichen Karpaten nach Siebenbürgen und ferner einer Zuwanderung von Serben und sonstigen Südslawen nach Ungarn (die es bereits in Folge der ersten von den Osmanen gewonnenen Schlacht auf dem Amselfeld 1389 gegeben und die noch einmal verstärkt ab 1690 eingesetzt hatte) war es vor allem die konsequente Anwerbung von deutschen Siedlern, wie sie mittels staatlicher Siedlungsprogramme und von privaten Großgrundbesitzern betrieben wurde.
Denn die politische und wirtschaftliche Macht im Ungarn des 18. Jahrhunderts lag in den Händen des Adels, genauer: der weltlichen und geistlichen Großgrundbesitzer, zu denen als die entscheidenden politischen Machtfaktoren maximal 20 Familien zählten. Sie bestimmten im Landtag die Politik; der ländliche Kleinadel war - da weitgehend verarmt - allenfalls in den Dörfern von lokaler Bedeutung. Die Befriedung Ungarns nach den Bauernaufständen (Kuruzzenkriegen) in dem am 29. April 1711 geschlossenen und am 1. Mai 1711 feierlich unterzeichneten Friedensvertrag von Szatmár(néméti)/Sathmar (Satu Mare) hatte neben der Amnestie für die Aufständischen vor allem eine "Aussöhnung" des Wiener Hofes mit dem ungarischen Adel zum Ziel: Dieser behielt den ungestörten Besitz seiner Ländereien, seine Steuerfreiheit und sonstigen Privilegien, das Recht auf Halten von Leibeigenen und das Recht auf ständisch organisierte Selbstverwaltung. Und es war allen Beteiligten klar: Die Macht des Adels konnte wirtschaftlich nur erhalten werden, wenn es genügend Arbeitskräfte gab.
In Erinnerung an die erfolgreiche Besiedlung mit Deutschen im 12./13. Jahrhundert (Zipser Land, Siebenbürgen) wurden Bauern und Handwerker angeworben und in der Batschka, im Banat, in den Komitaten südlich des Plattensees (Balatons), im Bakony-Gebirge und in der (die damalige Hauptstadt) Buda umgebenden Region angesiedelt. Das Ergebnis waren Wiederbelebung der Wirtschaft, technische Innovation, Modernisierung des Handwerks und Intensivierung der Landwirtschaft - und manchmal auch die Verdrängung anderer, weniger erfolgreicher Siedler, wie zum Beispiel der einer extensiven Landwirtschaft anhängenden zugewanderten Serben in ihrer Eigenschaft als Viehhirten und -züchter. Außerdem finanzierten die Neusiedler mit ihren vorgeschriebenen Vermögenswerten, die sie mitbringen mußten, in gewisser Weise selbst den Aufschwung - auch wenn sie eine Unterstützung für ihre ersten Schritte in der neuen Umgebung und einige wenige länger wirkende Privilegien zugestanden erhielten.
Alles in allem begann durch diese Entwicklungen, daß sich die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in Ungarn erheblich veränderte. Der Vielvölkerstaat Ungarn war geboren, in dem die Magyaren zwar die größte Gruppe bildeten, aber in die Minderheit gegenüber der Summe aller übrigen Ethnien gerieten. Deren zahlenmäßige Stärkung wurde allmählich zur kritischen Masse, die es den einzelnen Ethnien später gestattete, für sich immer unerbittlicher die Autonomie und dann die nationale Unabhängigkeit zu fordern. Es war sozusagen schon die Lunte gelegt, die angesichts dieser Forderungen 150 Jahre später den Vielvölkerstaat explodieren ließ und zur Bildung von Nationalstaaten auf dem Gebiet der k.u.k.-Monarchie führte.
(kr)